A-Cappella-Festivals, CD-Produktionen, Bandauflösungen und -neugründungen, Wettbewerbe, Chorfeste, Workshops, Podcasts, Masterclasses, Interviews, Konzerte – dies alles beschreibt quasi mein vokales Zuhause, die musikalische Welt des vokalen, mehrstimmigen Pop und Jazz, in der ich mich privat und beruflich vorzugsweise bewege. Ich lebe und liebe diese Szene – und schreibe immer wieder über sie. Nun also: Zum Stand der Dinge in der populären A-Cappella-Szene. Oder eher: Wer oder was ist nach zweieinhalb Jahren Pandemie noch übriggeblieben? Vorab: Dieser Artikel versteht sich als Schnappschuss in die Szene hinein, ohne Anspruch auf Vollständigkeit!
Beginnen wir direkt mit dem wohl größten Kloß, der uns allen im Halse steckt: Nicht wenige Gruppen begeben sich gerade auf Abschiedstournee und haben das Ende ihrer Karriere angekündigt. Die Pandemie hat solche Prozesse offenbar massiv beschleunigt. So mussten sich gerade SängerInnen, die zuvor professionell unterwegs und somit wirtschaftlich auf ihre rege Konzerttätigkeit angewiesen waren, zum Teil in andere, musikferne Jobs flüchten, um die Pandemie finanziell zu überstehen. Der Schritt zurück ins aktive Konzertleben ist nun aber umso schwieriger. Daneben gibt es im Einzelfall sicher noch andere Gründe, so z. B. bei basta:
Im Februar 2022 verkündete die seit über 20 Jahren aktive erfolgreiche Kölner Band ihren Abschied.
Das langjährige Bandmitglied René Overmann leidet seit Sommer 2021 unter den Folgen eines Sportunfalls; seit über einem Jahr touren basta nun nur noch zu viert durchs Land. William Wahl ist inzwischen mit seinem Solo-Klavierprogramm auf Bühnen in ganz Deutschland präsent und Arndt Schmöle kann man vermehrt in Hörbuchproduktionen lauschen. Doch dieses Tschüss von basta – und das ist die gute Nachricht – ist eher ein Auf Wiedersehen. „Wir lieben basta zu sehr, um es für alle Zeiten sein zu lassen. Wir haben fest vor, uns wie all die Jahre zuvor in der Adventszeit zu treffen und auch in Zukunft mit unseren Fans Weihnachten zu feiern und mit unserem X-Mas Special die Hütte zu rocken“, so die Band auf ihrer Website.
Auch die süddeutsche Comedy-Band Füenf befindet sich derzeit auf Abschiedstournee. „Diese Band hat bei einigen von uns mehr als ihr halbes Leben geprägt und bestimmt. Länger als so manche Ehe hält“, berichten die fünf Männer im Netz. „Wir spürten, dass die Zeit gekommen war, dem Wunsch nach individueller Weiterentwicklung mehr Raum zu geben, als es im ständigen Tour-Alltag in einer professionellen Band möglich ist. Nach über 2000 Konzerten, 10 Bühnenprogrammen, 13 CDs und einer unvergesslichen, geilen Zeit ist für uns jetzt der richtige Moment, um uns zu verabschieden. Wir konnten eine so lange Zeit auf der Bühne tun, was uns am meisten erfüllt: gemeinsam Musik machen und singen. Dafür sind wir sehr dankbar!“ Wer sie nochmal hören möchte: Sie sind noch bis Frühjahr 2024 on the road.
Die Leipziger Band VOXID – von 2007-2016 unter dem Namen tonalrausch aktiv – hat auch die Segel gestrichen. Daniel Barke, musikalischer Kopf der Band, hat nun das Konzertbooking der befreundeten Leipziger A-Cappella-Band Quintense übernommen. Die rund um Hannover ansässige junge HörBänd, ein Quintett um Joshua Bredemeier, hat sich nach 6 Jahren munteren Treibens auf den schönsten Bühnen dieses Landes entschieden, die Arbeit in der Band zu beenden: „Mit ganz viel weinenden und hoffentlich noch mehr lachenden Augen und dann sagen wir Tschau mit Ö!“
Die 4-köpfige Berliner Band Delta Q haben im März 2021 bekannt gegeben, den Konzertbetrieb künftig stark einschränken zu müssen. Sie waren in wechselnden Besetzungen seit 2012 aktiv. „Die Situation ist für die gesamte Kunst- und Kulturszene verheerend, und so hat sich auch bei uns einiges verändert“, berichtet die Band in den sozialen Medien. „Delta Q war immer unsere liebste Beschäftigung, und dass wir damit auch noch unser Geld verdienen konnten, war ein großes Glück. Dennoch hat die Pandemie alles verändert, und bis die Kulturszene es wieder zulässt, dass man mit einer Band wie uns genug Geld zum Auskommen verdient, werden sicher noch Jahre vergehen.“ Diese Tatsache hat sie zum Umdenken gezwungen.
Jeder von den Vieren hat sich neue Tätigkeitsbereiche gesucht, bzw. ist auf alte zurückgegangen. Matthias Graf wird sich wieder Musicals und Kreuzfahrtschiffen widmen. Thorsten Engels arrangiert fleißig für Chöre und Ensembles, Tom Dewulf ist weiter im Kabarett zu sehen und Sebastian Küchler ist nach wie als Gesangslehrer aktiv. „Ab 2022 wird Delta Q dann eher zu einer Projektband werden, die ab und zu Videos oder Songs hochlädt. Wir sind unfassbar traurig, aber sehen keine andere Möglichkeit“, so die Band.
Patrick Oliver von der Berliner Vocalband ONAIR hofft, dass die Band den nächsten Winter übersteht. „Ich mache mir Sorgen, ob im Herbst und Winter Konzerte stattfinden werden. In Zeiten von Inflation und essenziellen Krisen bin ich gespannt, ob Leute weiterhin Konzerte besuchen.“ Derzeit ist ONAIR zudem auf der Suche nach einem neuen Bassisten, da das langjährige Mitglied Kristoffer Benn die Band verlassen wird. Die Bewerbersituation bleibt jedoch leider überschaubar.
Während die professionellen Bands also um ihre finanzielle Lebensgrundlage kämpfen, klafft im Nachwuchs ein großes Loch. Während der Pandemie haben sich kaum neue Ensembles gegründet, und gerade erst bestehende hatten wenig Entwicklungschancen. Dies bekommen nun vor allem die Wettbewerbe und Festivals zu spüren – bei vielen Events fehlt es an teilnehmenden Gruppen oder Einzelteilnehmern. So musste der 13. Internationale a cappella Wettbewerb Leipzig dieses Jahr entfallen. „Die schwierige Proben-, Auftritts- und Reisesituation durch die Corona-Pandemie hat den A-cappella-Nachwuchs noch so im Griff, dass die für den Wettbewerb bereits zugelassenen Ensembles zum Teil immer noch Schwierigkeiten haben, gemeinsam zu proben oder die Reise zum Wettbewerb auf sich zu nehmen“, berichten die Veranstalter auf ihrer Website. „Immer mehr Ensembles mussten ihre Teilnahme zuletzt wieder absagen“. Auch der bedeutende Wettbewerb vokal.total in Graz hat sein 20. Jubiläum noch einmal verschoben. „Wir waren optimistisch bezüglich der Entwicklungen der weltweiten Gesundheitskrise, jedoch scheinen die Auswirkungen auf uns doch noch spürbarer zu sein als wir dies wollten“, so der Veranstalter. Das New York Voices International Vocal Jazz Camp in der Bayerischen Musikakademie Marktoberdorf wurde aufgrund zurückgehender Anmeldungen auf 2023 verschoben, das Internationale Seminar für Vocal Jazz vom Deutschen Musikrat an der Bundesakademie Trossingen fand mit deutlich reduzierter Teilnehmerzahl statt und auch das neue SINGSATION-Konzept von Interkultur wurde für diesen Sommer aus den Kalendern gestrichen.
Neben den Künstlern und Veranstaltern von Wettbewerben und Seminaren trifft es aber auch etliche Menschen drumherum: Ton- und Bühnentechniker, Konzertveranstalter – und freiberufliche Coaches: Der Berliner Gesangspädagoge und Bühnencoach Felix Powroslo, vor der Pandemie beruflich noch fest in der populären A-Cappella-Szene verankert, wurde in seiner Arbeit stark beeinträchtigt:
„Viele Ensembles, mit denen ich gearbeitet habe, coache ich momentan deutlich weniger bis gar nicht mehr. Deshalb habe ich mich mehr in den Businessbereich umorientiert und arbeite zudem mehr an Hochschulen.“
Doch blicken wir positiv nach vorne: Die wohl angesagteste deutsche A-Cappella-Band MAYBEBOP konnte 2022 durch das NEUSTART KULTUR-Programm des Dt. Musikrates zum #kinderkram-Jahr erklären und mit dem gleichnamigen Programm auf Tour gehen. Auch die A-Cappella-Ensembles CALMUS, Singer Pur, SLIXS und das Voktett Hannover durften sich über eine Förderung aus diesem Topf freuen.
Nach und nach gründen sich auch neue Formationen: Martin Seiler (bekannt durch Greg is back und CASH-N-GO) hat mit seinem Kollegen Tobias Elster mitten in der Corona-Pandemie magpie alley gegründet, eine 6-köpfige Vocalband aus bühnenerfahrenen Musikerinnen und Musikern; gerade ist ihre Debut-CD Welcome to the Alley erschienen. Die 5 Sängerinnen der neu gegründete Kölner Band Bubs setzen sich mit ihrer Debut EP Labels für Gleichstellung und Diversität ein. „Mit unserer Musik möchten wir ein Zeichen setzen. Gemeinsam möchten wir uns für Gleichberechtigung/-stellung, tieferes Diversitätsbewusstsein bei uns selbst und in der Gesellschaft und gegen Diskriminierung aller Art positionieren“, schildern sie. Die Anfang des Jahres gegründete Berliner Frauenformation laulaa – bestehend aus Studierenden der UdK Berlin – konnte sich im Sommer bereits beim Vokalfestival Black Forest Voices für die Teilnahme am Coaching Camp qualifizieren und durfte mit Coaches wie Kim Nazarian (New York Voices) und Morten Vinther (eh. The Real Group) arbeiten.
Das Leipziger Calmus-Ensemble hatte bereits einen umfangreichen Generationswechsel in seiner Besetzung angekündigt und nun auch durchgezogen: Die neue Besetzung startet seit September durch. „Es ist ein großes Vorhaben, Calmus mit drei neuen Gesichtern auf gleichem musikalischen Niveau und mit gleichem Esprit weiterzuführen – eine Herausforderung, die wir alle bereits angenommen haben“, berichtet das Ensemble auf ihrer Website. The Real Group aus Schweden tut es ihnen gleich und ist bereits mit einer komplett ausgetauschten Besetzung unterwegs.
Es lohnt dann auch ein kurzer Blick über den Tellerrand nach Europa. Die Bandbreite ist auch hier weit gestreut: Von einem nicht stattgefundenen Vocalmente-Festival in Italien bis hin zum erfolgreichsten Festival unserer Szene, dem Aarhus Vocal Festival in Dänemark, über dem neuen, wirklich hochklassigen Wurf der European Choral Association in Utrecht: Leading Voices.
Da ist er also wieder: Der positive Spirit, der sich wacker hält in der Szene, der begeistert und zum Weitersingen und -hören bewegt. Er lässt uns daran glauben, dass es irgendwie weitergeht, dass die Konzertsäle wieder voller werden und Festivals eine Chance zum Weitermachen erhalten.
Jeder kann dabei mit anpacken. Und nun los zum nächsten Konzert!
P.S.: Ein Ausblick auf das Vokaljahr 2023 folgt BALD 🙂
Artikel geschrieben für die Chorzeit – Das Vokalmagazin, Ausgabe September 2022