Vom 23. Juni bis 2. Juli 2023 findet das 72. Musikfest ION in Nürnberg statt. In 22 Konzerten in sechs Kirchen, in zwei musikalischen Festgottesdiensten sowie zahlreichen begleitenden und vertiefenden Angeboten wird das Jahresthema HALT künstlerisch durchdrungen. Die Künstler:innen und Ensembles kommen u. a. aus Nürnberg, Leipzig, Hamburg, Ingolstadt, Berlin und Stuttgart sowie aus Belgien, Polen, England, Norwegen und Kroatien.
Auf dem Programm stehen neben großen Werken der Musikgeschichte wie Mendelssohns Elias und Monteverdis Marienvesper auch ikonische Chorwerke der Moderne wie Arnold Schönbergs Friede auf Erden oder das 1982 beim Musikfest uraufgeführte Agnus Dei von Krzysztof Penderecki; auch zwei Uraufführungen sind zu erleben. Hinzu kommen künstlerische Auseinandersetzungen mit Klassikern der Pop- und Rockgeschichte – in Kirchenräumen. Etliche Gäste feiern ihre Nürnberg-Premiere, so etwa das Ensemble Resonanz, eines der weltweit führenden Kammerorchester, oder die kroatische A-cappella-Gruppe Metaklapa sowie die legendäre NDR Bigband.
Ich habe mich anlässlich der ION 2023 mit dem geschäftsführenden Intendanten Moritz Puschke unterhalten.
Nina Ruckhaber: Ich dachte, ION heißt Internationale Orgelwoche Nürnberg. Auf der Website lese ich nun: Internationales Festival für Geistliche Musik.
Moritz Puschke: Bevor ich hier angefangen habe, habe ich gesagt: ION Musica Sacra ist kein Festival für die Jetztzeit und auch nicht für die Zukunft. Wir haben dann schon vor meinem ersten Festivaljahr 2019 mit dem Stiftungsrat einstimmig beschlossen, das Ganze umzubenennen in Musikfest ION, die drei Buchstaben also zu behalten, aber ihnen das „Musikfest“ voranzustellen. Wir feiern also ein Fest der Musik – in Kirchen, ja – aber was genau spirituelle oder geistliche Musik ist, lassen wir uns nicht von den Alten Meistern vorschreiben.
Wir begreifen das eher als Einladung an das Publikum, für sich herauszufinden, ob die Musik in diesen Räumen eine spirituelle Dimension bekommt – UND als Einladung an die Künstler, sich mit diesen besonderen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Das kommt meinem Festival-Ideal auch näher, weil es diesen Werkstatt-Charakter beinhaltet. Die Künstler wissen: Wenn wir nach Nürnberg kommen, wird das nicht die normale Tournee-Show. Da gibt‘s diese besonderen Räume, und dann werden Programme gegebenenfalls auch mal verändert oder überarbeitet; da legen die Künstler tatsächlich nochmal eine Schippe Kreativität drauf!
Und wir binden die Künstler auch mit ein in unseren lokalen und regionalen Zusammenhang und – gerade auch mit diesem Programm – Zusammenhalt, also: die Bündnisse vor Ort in Nürnberg und in der Metropolregion. Die Jugendkantorei hier in St. Sebald beispielsweise hat sich kurz vor Corona gegründet und hatte ihr erstes Konzert überhaupt letztes Jahr auf der ION mit Voces8. Und das spinnt sich jetzt fort: Dieses Jahr machen viele von ihnen in der Jugendkantorei Nürnberg etwas mit Sjaella zusammen! Der Windsbacher Knabenchor und die Tallis Scholars konzertieren gemeinsam, das Vokalensemble St. Lorenz erarbeitet mit der NDR-Bigband eine Uraufführung … Das ist der alte chor.com-Gedanke, und er ist immer noch innovativ und immer noch gut: Bringt sie zusammen, lasst sie zusammen arbeiten und Programme entwickeln – und wir zeigen die Ergebnisse.
Euer Programm spricht von „hunderten begeisterten Kindern“, dabei geht nichts stärker zurück als die Zahl singender Kinder – oder wie erlebt ihr das?
Gerade wenn man bedenkt, dass man für unsere Projekte ja schon seitens der Schulen einen relativ hohen organisatorischen Aufwand betreiben muss mit Unterrichtsbefreiungen, Einverständniserklärungen der Eltern usw. ist es wirklich beeindruckend zu sehen, dass uns regelmäßig innerhalb von wenigen Tagen mehr Bewerbungen vorliegen, als wir im Festival unterbringen können. Die Lehrer wollen unbedingt, und auch die Schulleiter haben offenbar verstanden, dass das gemeinsame Musizieren – gerade nach Corona – einen großen Beitrag zur Gemeinschaftsfähigkeit jedes und jeder Einzelnen leisten kann. Aber der Weg dahin war wirklich das, was ich als Kärrnerarbeit bezeichne. Wir schreiben das zwar über den Schulverteiler in ganz Nürnberg aus – aber du musst halt selbst dahin, das geht nicht nur über eine Mail. Man muss reden mit den Leuten! Da hilft natürlich auch wieder, dass dieses Festival schon seit 70 Jahren besteht und dass – bei aller Unklarheit, was genau sich dahinter verbirgt – auf jeden Fall klar ist, dass es Qualität hat und zu Nürnberg gehört. Das ist eine beständige, vor allem: Kommunikationsarbeit! Und genau das ist am Ende auch der Grund, weswegen ich hier hergezogen bin: Ich will die Menschen auf dem Marktplatz wiedertreffen, mit denen ich die Sachen wochen- und monatelang vorbereitet habe.
Wie seid ihr finanziell aufgestellt – und wie entwickeln sich Eure Zuschauerzahlen?
Wir sind in keiner institutionellen Förderung, d. h. wir stellen jedes Jahr neue Anträge auf Förderung beim Freistaat und der Stadt und bitten auch um Förderung bei den Kirchen und beim Regierungsbezirk Mittelfranken – all das macht zusammengenommen etwa 25 – 30 % unseres Budgets aus. Den Rest nehmen wir durch Spenden, Sponsoring und die Ticketerlöse ein. Dabei spielt auch ein spezifisch Nürnberger Patronat eine große Rolle, es gibt hier einen Freundeskreis von Privatmenschen und Unternehmer*Innen, die relativ regelmäßig vierstellige Beträge spenden. Und die Zuschauerzahlen sind im vergangenen Jahr im Verhältnis zu 2019 um etwa 25 % gestiegen!
Habt Ihr denn in den Corona-Jahren Fördermittel des Bundes beantragt und erhalten?
Wir haben keine Fördermittel des Bundes beantragt, sondern haben das Festival in den Corona-Jahren kleiner gefahren und sind nicht in das betriebswirtschaftliche Risiko gegangen. Das hat uns davor bewahrt, unsere Programmplanung an irgendwelchen Förderbedingungen zu orientieren. Stattdessen haben wir in die Publikumsbindung investiert – nicht mit Geld, sondern mit Briefen und Postkarten, Empfehlungsmarketing … und wir haben die Zeit genutzt, Ideen und Perspektiven für unser Festival zu entwickeln – und das kostet ganz viel Zeit und Gespräche und Diskussionen! Und ganz grundsätzlich wollen wir eher in die Tiefe wachsen als in die Höhe oder Breite: Nicht „noch ein Konzert mehr“ oder gar „noch eine Woche länger“, sondern lieber unsere Dialoge mit den Institutionen hier vor Ort vertiefen und Entwicklungen anstoßen, die dauerhaft wirken können.
Das Gesamtprogramm mit detaillierten Informationen ist zu finden unter www.musikfest-ion.de.
Gespräch geführt im November 2022.