„Wir vermissen einander!“

You are currently viewing „Wir vermissen einander!“

Neue Online-Formate von Vocal Bands auf Social-Media-Kanälen helfen in Zeiten von Social Distancing, mit den Fans in Kontakt zu bleiben und setzen Kreativität frei

Seit Wochen und Monaten keine Proben und Konzerte: Kein Probenraum, kein Zusammenkommen, keine Zuschauer. Social Distancing – und nun? Nicht nur die gesamte Chorszene ist davon betroffen, auch die kleinbesetzten Vocal Bands müssen sich mit dieser neuen Situation künstlerisch und wirtschaftlich arrangieren. Spielt bei Konzerten gerade der Austausch mit dem Publikum vor Ort eine große Rolle, fehlt diese Dimension bei digitalen Varianten nahezu vollkommen. Viele Vocal Bands sind deshalb auf Social Media mit neuen Online-Formaten kreativ geworden, die sich nicht auf das eindimensionale Senden eines Konzertes beschränken, sondern den Austausch mit den Zuhörern und Zuschauern ermöglichen.

Einige dieser neuen Formate und Ideen, mit denen Vocal Bands in diesen Zeiten weiter Präsenz zeigen, möchte ich in diesem Artikel näher beschreiben – und der Frage nachgehen: Was bewegt die Akteure dieser speziellen Szene eigentlich momentan?

Das Berliner Frauenquartett Gretchens Antwort hat sich auf Social Media mit Formaten wie der #miniacappellashow und einem Girls-Talk hervorgetan, einem Live-Video-Podcast, für den sich die Band verschiedene Kategorien ausgedacht hat, z. B. eine ganz eigene Gretchen-Variante der Dating App „Tinder“. Darüber hinaus wurde über vergangene Konzerte, über Spleens und Lieblingsgetränke gesprochen – eben eine bunte „Gretchen-Mischung“. Ihre #miniacappellashow griff Songs anderer A-Cappella-Bands im Stile der Miniplaybackshow als Lip Sync Video auf; besonders unterhaltsam waren dabei auch die Feedbacks der gecoverten Bands. „Die Formate waren für uns sehr spaßig – aber doch aufwändiger herzustellen, als man auf den ersten Blick vielleicht vermuten mag“, berichtet die Gretchens-Antwort-Sängerin Steffi Klein.

Die Freiburger Popband anders hat mit dem „Plauscharrest“ einen eigenen Podcast gegründet, auf dem die Fünf sich untereinander, aber auch mit ihren Fans austauschen und sie an ihrem „Corona-Bandalltag“ teilhaben lassen können. Für anders war es naheliegend, das Medium zu nutzen, auf das sie auch sonst zurückgreifen: ihre Stimmen. Die Reaktionen der Zuhörerschaft waren durchweg positiv. „Interessant ist auch, dass unser Podcast-Publikum im Schnitt wesentlich jünger ist als unser Konzertpublikum“, berichtet Johannes Berning. „Wir können im Podcast also auch andere Themenschwerpunkte setzen als bei Konzerten – und uns möglicherweise ein neues Publikum erpodcasten.“

Das Hamburger Comedy-Quartett LaLeLu hat mit „Kratzen im Hals – Mit LaLeLu in Quarantäne“ einen Videopodcast gegründet, der dreimal pro Woche erscheint – LaLeLu-typisch von albern bis ernst, von leichter Unterhaltung bis zum politischen Statement. Jede der inzwischen über 60 Folgen enthält einen umgetexteten Song zum Corona-Thema, einen Talk, ein Gewinnspiel und die „Weisheit des Tages“. „Derzeit sind fast alle Themen und emotionalen Phasen der Corona-Zeit in den Podcasts abgebildet“, erzählt Bandmitglied Tobias Hanf. „Wir haben eine eingeschworene Fangemeinde, die sich regelmäßig die Podcasts anschauen – und wir freuen uns sehr, durch den Podcast einen engen Kontakt zu unseren Fans zu halten.“.

Die Leipzig-Freiburger Vocalband Unduzo hat sich im Netz mit ihrem wöchentlichen Format „Tok Tok Talk“ einen Namen gemacht. Dahinter verbirgt sich eine lockere Gesprächsrunde, die in Form einer Zoom-Konferenz stattfindet und live über einen Stream auf Facebook ausgestrahlt wird. Immer dabei ist ein Gast aus der A-Cappella-Szene, der kleine Überraschungen mitbringt: Spiele, Präsentationen, Video-Einblicke, Sneak-Previews und dergleichen. „Wir sind eine Stunde im Gespräch mit dem jeweiligen Gast und berichten aus unserem konzertfreien Alltag“, berichtet Richard Leisegang, Sänger und Manager der Band, „und zeigen ansonsten alles, was uns im Laufe einer Woche so einfällt: Videos, Songs, kleine Challenges … Die Zuschauer beziehen wir in unsere Gespräche mit ein; sie können kommentieren, mitentscheiden und liken, was ihnen gefällt.“ Das zeigt auch finanziell Wirkung: Einige Zuschauer folgen dem Spendenaufruf am Ende des Tok Tok Talks und überweisen der Band eine kleine finanzielle Unterstützung. „Wir sind deswegen ganz gerührt“, so Richard Leisegang.

Auch international ringen Gruppen um Aufmerksamkeit im Netz. So hat sich das Londoner Oktett VOCES8 mit dem täglichen Format #LIVEFROMHOME einen Platz auf den Social-Media-Kanälen erkämpft: Interaktive Gesangspräsentationen, ein persönlicheres Kennenlernen der einzelnen Bandmitglieder, Live-Stream-Shows, Backstage-Geschichten, auch Einblicke in die Musikindustrie sowie Interviews mit Gästen sind dabei. „Unsere Fans sind sehr dankbar für #LIVEFROMHOME“, erzählt Countertenor Barnaby Smith. „Viele Menschen haben unsere Veröffentlichungen als Teil ihrer täglichen Routine genutzt, als sie ihre Häuser nicht verlassen durften“.

Doch kann man sich in Zeiten von Social Distancing tatsächlich nur online präsentieren? Maybebop war die erste A-Cappella-Gruppe, die mit Konzerten im Autokino auf sich aufmerksam gemacht hat – ihre infolge eines Versprechers so betitelten „Autokonzinos“. Das Quartett singt auf einer Bühne und wird durch ein Kamerateam live auf die Leinwand des Autokinos gestreamt. So können die Zuschauer im Auto wie bei einem Stadionkonzert die Jungs sowohl auf der Bühne als auch auf der Leinwand sehen; zu hören ist die Band jeweils über das Autoradio. Die Reaktionen der Fans nach den Konzerten sind überwältigend. „Wir stehen immer an der Ausfahrt und winken. Es ist ganz rührend zu sehen, wie glücklich und dankbar die Leute die Heimreise antreten“, berichtet Bandmitglied Oliver Gies. Aktuell stehen bei Maybebop acht Autokonzinos im Terminkalender – warten wir ab, ob sich noch weitere ergeben.

Mit einem zunächst einmaligen Format, das aber große Aufmerksamkeit erregt hat, haben sich die amerikanischen Grammygewinner Take6 auf Facebook zu Wort gemeldet und in einer 90-minütigen Liveschalte zu ihren Fans gesprochen: Berührende Geschichten und Gedanken über die jüngsten Ereignisse in den USA, ihre eigenen Rassismuserfahrungen und über Wege zum gesellschaftlichen Wandel. Nun setzen sie diese Gespräche in ihrer wöchentlichen #SpreadLove2020Challenge fort.

Und wie kann man als Vocal Band in diesen Zeiten sonst noch präsent sein? Was bewegt die Bands derzeit am meisten? „Das Zauberwort heißt Social Media“, so Johannes Berning. „Da beißt sich die Katze dann in den Schwanz, weil das natürlich alle anderen Vocal Bands auch wissen und man Gefahr läuft, in dieser neuen medialen Flut unterzugehen. Daher vertreten wir das Credo: Qualität vor Quantität.“ Tobias Hanf berichtet, dass es für LaLeLu ein großes Glück war, die Krise in Kreativität ummünzen zu können: „Das hat bei uns sehr viel positive Energie freigesetzt und uns nochmal zusammengeschweißt.“ Etwas trauriger klingt da Gretchens Antwort: „Wir vermissen einander. Das Singen. Konzerte. Unterwegs sein. Wir vermissen unsere Tontechniker.“ VOCES8 machen sich Gedanken darüber, wie man das Publikum wieder in die Konzerträume bringt. „Deshalb arbeiten wir aktiv daran, dass Vokalkonzerte als sichere Veranstaltungen wahrgenommen werden“, erklärt Barnaby Smith. Maybebop wird ab Herbst in einigen Theatern Splitting-Konzerte geben: Statt einer Show spielen sie an zwei Tagen insgesamt drei Shows, jeweils vor einem Drittel des Publikums. „So werden wir also drei Shows für die Gage einer Show spielen – was wir natürlich machen werden, denn sonst verdienen wir ja gar nichts. Aber wie wir die stimmliche Mehrbelastung durchstehen, wird sich zeigen müssen“, erzählt Oliver Gies.

Und worauf sie sich in der Zukunft am meisten freuen? „Auf Konzerte. Das macht nämlich doch mehr Spaß als Corona-Anträge auszufüllen“, grinst Richard Leisegang. anders wird bald mit neuem Bass auf der Bühne stehen. Für Voces8 steht der direkte Austausch mit ihrem Publikum nach den Konzerten im Vordergrund: „Interessante Gespräche, gemeinsames Lachen – all das vermissen wir sehr!“, so Barnaby Smith. Und bei Maybebop erscheint am 16.10. auch schon die nächste CD: Ihre erste Kinder-CD namens „Kinderkram“. Oliver Gies: „Wir freuen uns überhaupt auf alles, was noch kommt, weil wir einfach froh sind, uns zu haben.“

Artikel geschrieben für die Chorzeit – Das Vokalmagazin (7/8 2020)
> zur Druckausgabe