Auf der chor.com 2024 werden drei unterschiedlich ausgerichtete Masterclasses mit hochkarätigen Dozent:innen angeboten. Hier erhalten die Fachteilnehmer:innen die Möglichkeit, sich in mehreren Kurseinheiten einem Thema vertiefend zu widmen. Eine davon ist die Masterclass mit dem Dänen Jim Daus Hjernøe und den Vivid Voices aus Hannover: „Vocal Painting and Improvisational Works“. Eine künstlerische Entdeckungsreise, die sich an Chorleiter:innen richtet, die die Grenzen der traditionellen Chorleitung überschreiten wollen. Hjernøe, der für seine visionären und innovativen Chorprogramme bekannt ist, zeigt den Teilnehmer:innen in diesem intensiven Kurs Wege auf, wie sie ihre Herangehensweise an Chorleitung neu definieren können. Im folgenden Gespräch für die Chorzeit – Das Vokalmagazein gab er mir Anfang Februar einen ersten Einblick in die Materie.
Nina: Du bietest auf der diesjährigen chor.com eine viertägige Masterclass “Vocal Painting and Improvisational Works” an – kannst Du in einigen kurzen Sätzen das Konzept des Vocal Painting beschreiben?
Jim: Ja, gern: Vocal Painting dient der Interaktion, und zwar der zwischen den Dirigierenden und den Singenden ebenso, wie der Interaktion der Singenden untereinander. Damit soll eine Möglichkeit geschaffen werden, die musikalische Form eines bestehenden Arrangements oder auch einer spontan entstandenen Musik im Moment der Performance zu verändern. So kann Improvisation im Zusammenwirken aller Beteiligten entstehen, auch unter Einbeziehung des Publikums. Es ist eine Gebärdensprache für Musik.
Und Du hast diese Sprache entwickelt, stimmt’s?
Ja, das stimmt – aber ich erwähne in diesem Zusammenhang immer Walter Thompson, den amerikanischen Komponisten, der das Konzept des Soundpainting seit 1974 entwickelt hat. [Soundpainting ist eine universelle multidisziplinäre Zeichensprache, die Musikern, Tänzern, Schauspielern und bildenden Künstlern die Ausführung einer nicht fest notierten Komposition oder Passage ermöglicht.] Dieses Vokabular enthält durchaus Gesten und Zeichen, die auch für Vokalmusik gut funktionieren, aber viele andere für uns besonders wichtige Zeichen fehlten und fehlen dort bis heute. Ich habe Walter Thompson um die Erlaubnis gebeten, auf der Basis seiner “Erfindung” eine spezifisch für Vokalmusik geeignete Zeichensprache zu entwickeln, und er sagte: Klar, kein Problem – mach das! Es ist letztlich sowas wie ein Dialekt; keine ganz neue Sprache, sondern eine weitere Variante der selben Idee. Dabei ging es mir auch darum, dass wir als Dirigierende möglichst normal weiter dirigieren können, wogegen Soundpainter teilweise sehr spezielle Bewegungen vollziehen müssen, die sich nicht gut mit einem normalen Dirigat in Einklang bringen lassen. Also: Ja, ich habe Vocal Painting, zumindest in den Anfängen in engem Kontakt mit Walter, entwickelt und er hat mein Projekt sozusagen abgesegnet.
Wie kam es überhaupt dazu, dass Du nach so etwas gesucht hast? Soweit ich weiß, hast Du ja als “normaler” Chorleiter angefangen, oder?
Ja, ich habe relativ früh nach meinem Studium selbst begonnen, an der Akademie [= The Royal Academy of Music, Aarhus/Aalborg (RAMA)] Jazz- und Popchorleitung zu unterrichten, und das anfangs noch sehr konventionell … Aber 2002 war ich dann beim World Choral Symposium in Minneapolis, wo Bobby McFerrin einen Workshop zu Improvisation und Circle Singing gegeben hat – und das war wirklich ein Wendepunkt für mich! Ich war auf der Stelle völlig vernarrt darin, Musik im Moment entstehen zu lassen. Und ich habe sofort das riesige Potenzial gesehen, das in der Verbindung dieses Konzeptes mit der konventionellen Pop- und Jazzchor-Arbeit liegt. Wieder zuhause habe ich dann recht bald gemerkt, dass ich mit Handzeichen einen etwas detaillierteren Einfluss auf das musikalische Geschehen nehmen konnte – dass es sowas wie Soundpainting längst gab, wusste ich überhaupt nicht. Im Grunde war ich auf der Suche nach einem Werkzeug, mit dem ich das Chaos der Improvisation organisieren und dosieren konnte. Man könnte also sagen, Vocal Painting kam zu mir, weil in mir das Bedürfnis entstand, den Werkzeugkasten des Chorleiters um verabredete Gesten zu erweitern, mit denen man gemeinschaftlich musikalische Änderungen bewirken kann.
Gibt es, mit Blick auf alle Chorleiter:innen, die Interesse an deiner Masterclass haben, dafür unbedingt nötiges Vorwissen oder kann jede:r Vocal Painting lernen?
Jede:r kann das lernen! Wir haben für die Teilnehmer:innen einige vorbereitende Videos erstellt, die als Einführung in das Vokabular wirklich hilfreich sind – das und eine grundsätzliche musikalische Aufgeschlossenheit und die Bereitschaft, diese Zeichensprache zu erlernen, sollten als “Vorbildung” völlig ausreichen. Das braucht natürlich etwas Zeit, aber die nehmen wir uns in dieser Masterclass. Inhaltlich werden wir sowohl an bestehenden Arrangements mit Vocal Painting arbeiten als auch an spontanen Kompositionen.
Es gibt eine Vocal Painting App – wäre es eine gute Idee, wenn die Teilnehmenden sich vorab damit vertraut machten?
Ich glaube, es wäre eine wirklich sehr, sehr clevere Wahl, sich die App herunterzuladen! Wir bieten sie zu einem wirklich fairen Preis an [ca. 8,-€] und man bekommt dafür Zugang zu 75 der mittlerweile 100 Gesten; einige der neueren Gesten haben es noch nicht in die App geschafft. Allerdings ist diese App nicht als Lehrbuch konzipiert, mit dessen Hilfe man sich die Methode aneignen kann, sondern als eine Art Nachschlagewerk: So sehen die Gesten aus und so reagieren Sänger:innen darauf. Das zeigen wir tatsächlich mit kleinen Videos. Also: Ja, ich denke es wäre eine gute Idee, die App zu installieren und für einen ersten Eindruck auch schon mal hineingeschaut zu haben.
Bemerkst Du bei Dirigierenden, die bei Dir Vocal Painting gelernt haben, eine Veränderung auch ihres alltäglichen Dirigats?
Ich denke ja – denn Vocal Painting ist letztlich nur ein Teil eines Gesamtkonzeptes, das wir für die Ausbildung unserer Chorleitungs-Studenten entwickelt haben und das wir The Intelligent Choir nennen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Sänger:innen ein großes musikalisches Potenzial haben, bei dessen Erschließung wir ihnen helfen können, damit sie mehr über Musik lernen und letztlich Musiker:innen werden. Wir haben also drei Komponenten: erstens das musikalische Chorleitungs-Handwerk mit Rhythmus, Intonation, Klang, Ausdruck und Stage Performance; zweitens den Einsatz von Vocal Painting als Zeichensprache für Musik. Die dritte Komponente ist schließlich der kucheza-Faktor; kucheza ist Swahili und bedeutet – sehr frei übersetzt – “ich bin Musik”. Denn fürs Musikmachen muss jede einzelne Person im Chor spüren, dass sie oder er ein Teil der Musik ist, dass sie oder er Musik IST. Und es braucht tatsächlich gar nicht so viel Zeit, um das kucheza zu spüren – aber schon das allein verändert vieles. Bei der chor.com werden also einige Chorleiter:innen dieses Gefühl kennenlernen, und sie werden die Werkzeuge an die Hand bekommen, um mit diesem Verständnis von Chormusik qualitativ hochwertige Arbeit zu machen.
Für die Sänger:innen bedeutet das Konzept also auch einen großen Unterschied?
Ja, unbedingt! Die Sänger:innen werden musikalisch viel reflektierter und aufmerksamer und dadurch in der Lage sein, spontan zu reagieren und den musikalischen Kontext zu berücksichtigen. Es ist ein bisschen wie in einer Bigband, in der all die Jazzmusiker:innen sehr genau über alles Bescheid wissen, was NICHT in den Noten steht. Niemand kann wirklich in Noten oder Worten aufschreiben, wie das Feeling sein soll; die Musizierenden müssen das Feeling SEIN. Aber das setzt voraus, dass die Sänger:innen an eine aktivere und kreativere Rolle gewöhnt werden. Das Feedback, das wir bekommen, ist meistens: Der Chor wird lebendiger, weil sich alle in ihren musikalischen Fähigkeiten weiterentwickeln und sich der Musik ganz anders verbunden fühlen.
Interview geführt am 02.02.2024 von Nina Ruckhaber für die Chorzeit – Das Vokalmagazin