Isabelle Métrope – Balance halten!

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Die Musikerin Isabelle Métrope ist mir in den vergangenen Jahren immer wieder auf unterschiedlichsten Ebenen begegnet. Ich bewundere sie sehr für ihre Vielseitigkeit – und habe dies zum Anlass genommen mich mit ihr über ihre verschiedenen Spielwiesen in der Musikszene unterhalten.

 

Nina Ruckhaber: Isabelle, du bist professionelle Sängerin, Dirigentin, Musikredakteurin und Musikmanagerin – also musikalisch und organisatorisch extrem breit aufgestellt. Wie schaffst du diese Balance zwischen diesen verschiedenen Welten zu halten? Ist es möglich, in beiden Bereichen die gleichen Ansprüche zu stellen?

Isabelle Métrope: Die Balance zu halten ist in der Tat eine dauerhafte Aufgabe. Allerdings gilt es für mich nicht, rein mathematisch immer die Balance zwischen den Stunden zu halten, die ich den verschiedenen Aufgaben widme. Das wäre genauso unmöglich wie auch meist sinnlos, außerdem variiert der zeitliche Bedarf für jede Aufgabe ständig. Vielmehr geht es mir darum, stets ein Minimum an Zeit und Aufmerksamkeit allen Bereichen zu widmen. Erstens, um selbst – ganz egoistisch formuliert – nichts zu vermissen, denn ich brauche diese Vielfalt und die Abwechslung, und zweitens, um in allen Bereichen gute Arbeit zu leisten. Alles, was über dieses Minimum hinausgeht, ist flexibel und wird den Auftritten, Deadlines, Gelegenheiten und heutzutage auch der Pandemie angepasst. Was die Ansprüche betrifft: An mich selbst stelle ich gleich hohe Ansprüche, ob ich singe, dirigiere, einen Radiobeitrag produziere, einen Artikel schreibe oder die Buchhaltung eines Vereins erledige. Ob ich diesen Ansprüchen tatsächlich immer gerecht werde, steht auf einem anderen Blatt und das kann und sollte ich nicht selbst beurteilen, aber ich hoffe es!

Im Dezember 2020 hast du die Redaktionsleitung des International Choral Bulletin übernommen. Was sind dort nun konkret deine Aufgaben, worauf freust du dich am meisten?

Beim International Choral Bulletin bin ich die sogenannte „Managing Editor“. Konkret heißt das, dass ich das Magazin von der ersten Themenidee bis zur fertigen Redaktion betreue. Das Layout sowie den Kontakt zur Druckerei und zur Auslieferung übernimmt eine Kollegin aus der Internationalen Föderation für Chormusik, die das ICB herausgibt. Die Richtung des Magazins bespreche ich mit einem internationalen Editorial Board aus Chorexperten. Danach schlage ich Themen für die nächsten Ausgaben vor, beauftrage Artikel zu diesen Themen und manage die Übersetzungen (das ICB erscheint in vier Sprachen), bevor ich sie alle korrekturlese, was ich nach dem Layout noch einmal (zweimal, dreimal…) mache. Manchmal werden mir Artikel angeboten oder Autoren vorgeschlagen, manchmal lese ich mich in die Themen ein und stoße bei dieser Arbeit auf potenzielle Autoren. Gelegentlich kommt mir zu einem bestimmten Thema ein/e bestimmten KollegIn aus der Chorwelt in den Sinn und wir überlegen gemeinsam, in welche Richtung ein Artikel gehen könnte. Seltener, aber nicht ausgeschlossen ist auch, dass ich selbst schreibe. Die kreative Vorbereitungsarbeit finde ich besonders spannend. Momentan liegen bei mir beispielsweise lauter Bücher zum Thema Musikermedizin herum, weil mich dieses Thema schon lange interessiert und die April-Ausgabe des ICB ohnehin dem Thema „Singen und Gesundheit“ gewidmet ist. Die Chorwelt ist vielfältig, und die internationale Reichweite des ICB ist wie eine Schatztruhe. Zu jedem Chormusikthema findet sich ein interessantes Projekt, Stück, Chor oder Festival irgendwo, sei es 12 000 km weit von Deutschland entfernt, worüber berichtet werden könnte.

Du warst 2018 für 8 Monate als Chormanagerin der Wuppertaler Kurrende aktiv. Wie hast du die Arbeit mit den Choristen erlebt? Wie kam es zu der nur sehr kurzen Amtsperiode?

Mit den Choristen habe ich nicht viel direkt gearbeitet – außer als ich einmal einen erkrankten Stimmbildner vertreten musste. Ich hatte trotzdem von Zeit zu Zeit mit den Kindern und Jugendlichen zu tun, doch waren meine Aufgaben ausschließlich organisatorisch und meine Ansprechpartner somit hauptsächlich das künstlerische Team, meine Bürokollegin und der Vorstand. Ich fühlte mich im Haus der Kurrende wohl, diese Atmosphäre erinnerte mich (positiv) an die Kurse beim Knabenchor Hannover – ich hattebei ihrem Leiter Jörg Breiding Chorleitung studiert und öfter dort hospitieren und proben dürfen. Die sehr kurze Amtsperiode in Wuppertal ist der bereits angesprochenen Frage der Balance geschuldet. Die Stelle des Chormanagers war eine Vollzeitstelle, völlig zu Recht übrigens. Fast jedes Wochenende war ich aber für Proben oder Konzerte unterwegs und merkte schnell, dass sich meine musikalische Karriere nicht mehr mit einem Vollzeitjob im organisatorischen Bereich vertrug, bei dem außerdem meine Anwesenheit auch an manchem Wochenendtermin erforderlich war. So entschloss ich mich, zurück nach Baden-Württemberg zu ziehen und wagte den Schritt in die künstlerische Freiberuflichkeit. Einen Arbeitgeber nach einem halben Jahr in gewisser Weise „im Stich zu lassen“ war kein Schritt, den ich nochmal gehen möchte, aber für mich war es die richtige Entscheidung. Ich habe mich mit einer (hoffentlich) guten Übergabe revanchiert, außerdem hat die Wuppertaler Kurrende mit Jonathan Wahl einen sehr guten Nachfolger gefunden. Was mich sehr freut: ich stehe immer noch in Kontakt mit manchen erwachsenen Sängern und verfolge nach wie vor die Aktivitäten „meiner“ ehemaligen Kurrendaner!

 

Auch im Verlagswesen hast du bereits viele Erfahrungen sammeln können. Du hast von 2014-2017 bei Carus im Marketing und Vertrieb gearbeitet. Welche Erfahrungen aus dieser Zeit haben auf deine musikalischen Aktivitäten als Sängerin und Chorleiterin heute noch Auswirkung?

Meine Carus-Zeit hat mich tatsächlich sehr geprägt. Auch in diesem Haus habe ich mich wohl gefühlt, und wenn ich mal in Stetten beim Sitz des Verlages zu Besuch bin, habe ich immer das Gefühl, nach Hause zu kommen. Als Sängerin und Chorleiterin habe ich dort meine Repertoirekenntnisse schlagartig erweitert: Meine Arbeit bestand unter anderem daraus, auf Messen und Festivals sowohl die Direktkunden als auch unsere Händler zu beraten, dafür muss man ja auch wissen, was man im Gepäck hat. Und 30 000 Chorwerke sind ein ganz schön großer Koffer! Außerdem sind bei Messen immer leere Stunden, in der Zeit schauten wir uns die Stände der anderen Verlage an, redeten mit den Kollegen, und lernten somit auch ihr Angebot kennen. Ich kann schon lange nicht mehr ohne ein leichtes und nostalgisches Schmunzeln auf die Bühne laufen, wenn ich aus einer Carus-Ausgabe singe, aber das trifft auch bei anderen Verlagen zu, manche Mitarbeiter derer ich seitdem zu meinenFreunden zählen darf. Die Arbeit, die hinter einer Ausgabe steckt, und der sich wir Musiker nicht immer bewusst sind, ist übrigens wirklich interessant: Ich kann nur empfehlen – wenn solche Aktivitäten wieder erlaubt werden –, dem Sitz des Carus-Verlages bei Stuttgart einen Besuch abzustatten. Dort wird man herzlich empfangen und kann sich in der Notenbibliothek alles angucken, anspielen, Fragen stellen, den Weg einer Notenausgabe von der Idee bis zum Versand verfolgen…

Dirigentinnen sind gerade im Profibereich noch immer in der Minderheit. Hast du dich jemals durch dein Geschlecht in dieser Branche benachteiligt gefühlt? Oder auch: Welche Vorteile siehst du als Frau in der Chorszene?

Dirigentinnen sind noch immer in der Minderheit, da hast Du recht, aber diese Minderheit wächst. Dadurch, dass ich zwar als Sängerin im Profibereich unterwegs bin, jedoch als Dirigentin momentan nur mit Laienchören arbeite, kann ich aber wenig dazu sagen. Ich habe mich jedenfalls noch nie benachteiligt gefühlt. Was mich wiederum stört ist dieses Konzept, neuerdings Wettbewerbe „extra für Frauen“ zu veranstalten. Einerseits ist das eine konkrete Reaktion auf ein nachgewiesenes Ungleichgewicht, anderseits gibt es mir das unangenehme Gefühl einer Zweiklassenszene. Es geht ja nicht darum, Frauen zu bevorzugen, sondern die Leistung bei einer Bewerbung oder einem Wettbewerb genauso zu beurteilen wie die eines Mannes. Mit Betonung auf „genauso“: nicht strenger und nicht weniger streng und natürlich nach denselben Kriterien. Und damit wir dahin kommen, sind „Frauenwettbewerbe“ meiner Meinung nach kontraproduktiv.

2019 hat unter der Leitung von Mihály Zeke der neue professionelle europäische Kammerchor Cythera das Licht der Welt erblickt. Mit Choristen aus 10 verschiedenen Ländern wurde nun bereits sogar die erste CD veröffentlicht, du bist als Sängerin ebenso dabei. Du sagtest, dass die humanistische Dimension in diesem Projekt besonders wichtig ist. Wie zeigt sich dieser Ansatz in der Chorpraxis?

Cythera wurde als grundsätzlich interkulturelles professionelles Ensemble gegründet, bei dem die Wurzel und die unterschiedliche Herkunft der Sänger nicht bloß einen Punkt auf dem Lebenslauf, sondern einen klaren Bestandteil der Choridentität darstellen. Das Projekt „Homelands“, dessen Vol. 1 am 19. Februar erschienen ist, ist eine Art zweigleisige Reise, einerseits durch die musikalischen Wurzeln Europas, anderseits durch die menschlichen Emotionen. Ziel ist, anspruchsvolle Chorwerke von großen Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts zu präsentieren, die auf einigen der schönsten traditionellen, damals mündlich übertragenen Melodien basieren. Somit will Cythera verschiedene Schätze des europäischen musikalischen Erbes in einem Projekt vorstellen, wie ein Glasfenster aus vielen farbigen Teilen, die zusammen harmonieren – genauso, wie Europa in all seiner Vielfalt auch ein common ground ist. Aber auch die besungenen Themen ergeben eine Art Glasfenster mit allen möglichen erfreulichen oder weniger erfreulichen Gefühlen. Was wir nämlich alle gemeinsam haben, egal zu welcher Epoche und egal wo auf der Welt, ist unsere Menschlichkeit: Trauer, Freude, Liebe oder Angst gibt es immer und überall. Und damit sind wir schon bei der Chorpraxis, denn das vereint auch Sänger untereinander, ebenso wie Sänger und Zuhörer. Jahrzehntelang wurden diese Emotionen in Volksmelodien eingearbeitet; Menschen wie Kodály und Bartók, hierzulande auch Silcher, haben diese Melodien gesammelt und aufgeschrieben. „Homelands Vol. 1“ nimmt die Zuhörer auf die erste von 5 Reisen durch Europa mit, von Ungarn über Tschechien nach Deutschland – ganz nah an den Menschen dran.

 

Zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen mündlich übertragenen Melodien und zeitgenössischer Mehrstimmigkeit: Die CD-Pentalogie „Homelands“ bietet einen Querschnitt der von Volksliedern inspirierten Chorliteratur des 19.-21. Jahrhunderts. Im ersten Teil, der am 19. Februar 2021 beim französischen Label Paraty veröffentlicht und durch PIAS / Harmonia Mundi weltweit vertrieben wird, widmet sich Cythera manchen der schönsten und technisch anspruchsvollsten Chorwerke von Bartók, Dvořák/Janáček, Kodály, Brahms und Schönberg, a cappella sowie in Zusammenarbeit mit der Pianistin Marie Vermeulin. Wie hast du die CD-Produktion erlebt und was macht für dich diese Musik so besonders?

Diese Musik ist für mich auf doppelter Weise besonders. Zum einen, weil mir als absoluter Sprachfreak die verwendeten Sprachen ein Genuss sind (Ungarisch, Tschechisch, Deutsch). Ein gut gesprochener Text ist immer wirkungsvoll, ob man die Sprache versteht oder nicht. Aber wer dieser Sprache nicht mächtig ist, sollte sich bei Gelegenheit einen vorgetragenen ungarischen Text anhören, das ist wirklich besonders. Zum anderen: Wenn ein Werk Emotionen kraftvoll vermitteln kann, auch wenn man kein Wort versteht, wird meiner Meinung nach ein ganz großes Ziel erreicht. Das erste Stück auf der CD, Kodálys „Mátrai Képek“ (zu Deutsch „Bilder aus Mátra“), ist ein packendes Beispiel dafür. Für Ungarisch-sprachigen ist dieses Stück noch eindrucksvoller, denn es vermittelt starke Heimatsgeschichten und -gefühle.

Zu meinem Erleben dieser CD-Produktion: Die bereits besprochene humanistische Dimension wurde bei diesem allerersten Projekt von Cythera unglaublich präsent, ich glaube mehr als wir Sänger es geahnt hätten. Jeder von uns hatte zuvor bereits in internationalen Ensembles gesungen und mit Sprachen jongliert, aber in dieser Woche, die wir mit Proben, Sprachenlernen und Aufnehmen zusammen verbracht haben, aber natürlich auch damit, einen Chorklang zu finden und uns als Gruppe zu bilden, ist emotional etwas Starkes passiert. Das Repertoire ist mehrsprachig, und für Deutsch und Ungarisch waren Muttersprachler dabei, die nicht nur die Aussprache, sondern auch die Kultur vermitteln konnten. Die Themen – Exil, Trauer, Erwartung, Liebe – waren Impulse für nicht gerade oberflächliche Gespräche. Aus dieser Woche fuhr jede/r SängerIn natürlich mit einer sehr guten Kenntnis der Stücke nach Hause, vor allem aber mit einer tiefen emotionalen Erfahrung der Wurzel der Kollegen. Diese gemeinschaftliche Erfahrung hat uns übrigens durch den Lockdown mitgetragen, der je nach Land zwischen 2 und 8 Tage nach der Aufnahme verkündet wurde. Direkt nach dieser Erfahrung erstmal absolutes Chorverbot erteilt zu bekommen, war ein ziemlicher Schock! Wir haben in der Zeit viel miteinander kommuniziert und tun es weiterhin. Wir werden vermutlich vor Freude weinen, wenn wir uns eines Tages wiedersehen und endlich zusammen Konzerte geben dürfen (nach der Aufnahme fanden ja aus Pandemiegründen gar keine statt). Bis dahin freuen wir uns, die Musik zu hören, die Cythera geboren hat und die wir, noch in dieser alten Welt, aufnehmen durften. Und wir hoffen, mit „Homelands Vol. 1“ die Menschen zu berühren, die das Licht durch das musikalische und menschliche Glasfenster durchfluten lassen möchten.

 

 

Isabelle Métrope begann ihre musikalische Ausbildung als Sängerin und Geigerin in ihrem Heimatland Frankreich. Zunächst absolvierte sie ein Bachelorstudium Sprachen & Wirtschaft sowie ein Masterstudium in Musikmanagement. Später studierte sie Chorleitung (Klasse Prof. Jörg Breiding), Musikwissenschaft und Gesangspädagogik (Klassen Edina Soriano und Christoph Scheeben) an der Folkwang Universität der Künste in Essen.

>> zur Website von Isabelle Métrope