„Sich selbst genug sein“ – Interview mit Christian Fris-Ronsfeld

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Lieber Christian, du bist in Kiel aufgewachsen, hast in Freiburg studiert. Wie kam der Schritt nach Dänemark zustande?

Ich habe in Kiel im Popchor „Hello Music“ unter Leitung der Dänin Hanne Rømer gesungen, die ich mit 18 Jahren bei einem Jazz-Workshop kennengelernt hatte – und mit ihr auch skandinavische Musik und den dänischen Popchor-Stil, denn wir sangen Arrangements von Jens Johansen. Diese dänische, skandinavische Art Chor zu machen ist einfach unglaublich lebensfreudig und steckt an; das konnte ich nie vergessen. Und so bin ich nach meinem Erststudium an die Royal Academy of Aarhus/Aalborg gegangen, um Chorleitung noch weiter zu vertiefen und habe dort meinen Master gemacht. Anschließend habe ich nahtlos die Stelle zum künstlerischen Leiter der dänischen Mariagerfjord Chorschule und des Auswahl-Mädchenchores Mariagerfjord Pigekor bekommen: Glück und gutes Timing – wie das halt manchmal so sein soll.

Wie ist diese Chorschule aufgebaut?

Die Chorschule ist in 4 Säulen aufgebaut. Eine Säule ist der Elitebereich mit sechs Chören mit Aufnahmeprüfungen. Dann haben wir einen Bereich, in dem wir Unterricht in sieben Chören von Grund- und Volksschulen bis zum Gymnasium anbieten, der über den allgemeinen Schulchor hinausgeht, einen Erwachsenenamateurbereich mit u.a. Gesundheitschören, in denen man seine Lungenkapazität verbessern kann, und eine Säule als nationales Wissenszentrum zur Weiterbildung für Chorleiter und Lehrer, mit Probenvisiten oder Weiterbildungswochenenden.

Christian Ronsfeld, Foto: Johan Klitgaard

Und dein Chor ist im Elitebereich, richtig?

Genau, dort befinden sich sechs Kinder- und Jugendchöre. Das ist konzipiert wir ein aufbauendes Schulsystem: Eine zusammenhängende Kette, in der die Kinder und Jugendlichen als Chorfamilie zusammenwachsen und immer mehr Kompetenzen und Fertigkeiten erwerben. Die Kinder können schon ab der nullten Klasse in einem Vorschulchor mitsingen. Kindgerecht, nur mit Melodie, Handbewegungen und Spaß. Und dann können sie die Nahrungskette ganz hoch gehen, Mädchen wie Jungen, hinauf bis zum 20. Lebensjahr, und so bis zu 14 Jahre in der Chorschule mitsingen.

Welche Chöre leitest du?

Ich leite die beiden Jungenchöre (vor und nach dem Stimmbruch, und auch als gemeinsamer Chor) und die beiden jungen Mädchenchöre (Juniorchor und Pigekor). Alle Chöre sind Nachmittagsangebote, vormittags gehen die Kinder und Jugendlichen normal zur Schule.

An der Nachbarschule betreuen wir ein musikalisches Talentprogramm, in dem 4 Stunden pro Woche gezielt Talentförderung stattfindet, vergleichbar etwa mit einer Sängerklasse in Deutschland. Damit rücken wir jetzt noch dichter ran an den Alltag der Sängerinnen und Sänger, an ihr normales Milieu. Die Talentförderung im Mariagerfjord Pigekor umfasst über den Chorunterricht hinaus wöchentlichen Einzel-Gesangsunterricht und Gruppenunterricht in Klavier, Theorie und Gehörbildung.

Was ist das besondere an deinem Hauptchor, dem Mariagerfjord Pigekor?

Es gibt verschiedene Schlüssel, die für einen Kinder- und Jugendchor zum Erfolg führen KÖNNEN; das ist ja immer abhängig von den Sängerinnen und Sängern, aber auch von der Lehrerpersönlichkeit. Das heißt: Mein Rezept funktioniert in MEINEM Umfeld. Diese Methode oder Philosophie ist jedenfalls ein Schlüssel: Wir verstehen uns als Gemeinschaft, die nur mit jeder oder jedem Einzelnen funktioniert.

Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Ein Beispiel aus dem Alltag: In Dänemark dürfen aktuell die über 18-Jährigen pandemiebedingt nicht gemeinsam singen. Als ich vor zwei Wochen vor der Frage stand, ob ich nur die unter 18-Jährigen in Präsenz unterrichte oder alle gemeinsam im Online-Unterricht, habe ich mich für die Gemeinschaft entschieden. Ich habe gesagt: Ich darf den jüngeren Mädchen keinen gesonderten Unterricht anbieten, denn wir funktionieren nur solidarisch, nur im Verbund. Jeder Einzelne ist ein wichtiger Baustein des Gesamten, damit dieses schöne Puzzle am Ende aufgeht. Und das bedeutet natürlich für den Chorunterricht, dass jede einzelne Sängerin und jeder einzelne Sänger individuell betreut und gefördert werden muss. Dabei geht es nicht nur um Musikalität und Gesangstechnik, es geht auch um die persönlichen Fertigkeiten, um das Selbstwertgefühl. Selbstvertrauen entwickeln ist ja im Jugendalter total wichtig – und bei Präsentationen in der Schule treten die Mädels aus dem Chor ganz anders auf als die, die nicht im Chor sind; dieses Feedback erhalte ich ganz oft.

Diese Gemeinschaft und der Beitrag des Individuums – auch in künstlerischen Prozessen – ist der Schlüssel zur Motivation, zum Engagement, zur Begeisterung, und damit auch zum Wohlbefinden: „Ich gehe gerne in diesen Chor, weil ich hier so sein kann, wie ich sein möchte. Ich muss mich nicht verstellen.“ Sich selbst genug sein – das ist eigentlich die wichtigste Message, die ich den Mädels weitergeben möchte.

Ist das gemeint mit „Intelligent Choir“?

Der mündige Chor bedeutet: Du bist mitverantwortlich für den sozialen und künstlerischen Prozess, den wir gemeinsam durchlaufen. Du bist ein Teil des Ganzen, du bist wichtig, deine Meinung ist wichtig, deine Stimme ist wichtig, deine Präsenz, deine Energie, dein Lächeln – und auch, dass du offen darlegst, wenn du mal traurig bist: Du bist uns wichtig. Wir sind eine Familie und gehören zusammen. Wir definieren uns als Sänger in dieser Familie.

Das heißt für mich, dass ich mich wirklich um die Einzelschüler kümmern muss: Sie möchten gesehen werden, sie wollen, dass ich mich für sie interessiere. Sie wollen, dass sich die anderen Sänger für sie interessieren. Und sie möchten, dass ich auf ihre persönlichen Neigungen und Bedürfnisse achte. Ein gut funktionierendes Talentmilieu bedeutet eben auch, dass ich wissen muss, wann sie Zeit haben, wann sie Prüfungen haben, ob sie traurig sind, ob sie Probleme haben. Das löse ich mit jeweils 5 bis 6 Einzelgesprächen pro Jahr, jedes etwa 10 Minuten lang. Dazu machen wir zweimal im Jahr eine große Gesprächsrunde mit den Gesangslehrern, um die Entwicklung der Stimmen und Persönlichkeiten im Blick zu behalten.

Hast du bestimmte musikalische Probenmethoden?

Interaktion. Augenkontakt. Spaß am gemeinsamen Ausdruck. Viele High-Fives. Einander gute Energie zufließen lassen, sich gegenseitig spiegeln. Die Gruppe mischen, sodass immer wieder verschiedene Menschen miteinander reden und damit auch einen persönlichen Bezug zueinander bekommen. Viele Mädchen sind in der Pubertät scheu, in Skandinavien sind viele auch durch ungeschriebene soziale Gesetze gehemmt: Es darf praktisch keiner aus der Gruppe herausstechen. Niemand darf besser sein als der oder die Andere.

Das klingt fast, als seien die Dänen im Sozialverhalten die besseren Menschen …

Es ist ganz interessant: Wir Deutschen sind im gesellschaftlichen Miteinander eher von „höher, schneller, weiter“ und Konkurrenzverhalten geprägt. In Dänemark wird das durch den sozialen Kodex namens „Janteloven“ (Gesetz von Jante) eingegrenzt: „Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.“ Das hat aber auch einen Nachteil: Viele Leute sind sehr gehemmt und trauen sich kaum zu sagen, dass sie etwas können, dass sie stolz sind und Selbstvertrauen haben. Das kann man bei Jugendlichen deutlich merken, dass es für sie schwierig ist, mal zu sagen: „Ich mach das, ich bin dabei, du kannst auf mich bauen!“ In Dänemark gibt man sich gegenseitig Platz und achtet aufeinander, ist sozial empathisch und kümmert sich immer darum, wie es dem anderen geht. Man ist ein wichtiger Baustein für die Gemeinschaft.

Man könnte als Chorleiter ja auch einfach nur rein musikalisch arbeiten. Aber du betreibst einen ganz anderen Aufwand…

Ich investiere zwei Minuten am Anfang jeder Chorprobe und setze jeweils zwei Sängerinnen zusammen und lasse sie sich über ihren Alltag austauschen: Wie ist es in der Schule gelaufen? Mit welcher Energie checkt ihr ein? Was passiert am Wochenende? Wenn du das jede einzelne Probe machst, dann hat das einen Effekt auf die Gruppendynamik: Du bekommst eine positivere Gemeinschaft. Und das ist meiner Meinung nach ein wichtiger Grund, warum wir in die Chorprobe gehen. Wir suchen Gemeinschaft, wir singen nicht alleine, wir singen mit anderen Menschen. Wir wollen uns spüren und wir wollen die anderen Menschen spüren. Wir wollen gerne gemeinsam etwas erleben. Wir möchten Teil eines Chores sein, der gemeinsam künstlerische Entscheidungen trifft, in dem es gemeinsame Gespräche über künstlerische und gruppendynamische Prozesse gibt. Und dies ist eine Methode, die für mich funktioniert. Sie führt dazu, dass die Chorsängerinnen Spaß an der Sache haben und miteinander gerne auf die Bühne gehen, dass sie selbstbewusst auftreten, weil sie eigenständig sein können – soweit es eben geht.

Und wo steht da der Chorleiter?

Ich stehe nicht inmitten der Gruppe. Ich schaue von außen auf die Gruppe und gehe immer wieder rein, aber kann mich auch immer wieder rausziehen.

Wie schätzt du den Unterschied zwischen der dänischen und deutschen Chorszene ein?

Ich denke, dass wir in Dänemark einige Methoden haben, die für uns funktionieren und die für andere vielleicht eine Inspiration sein können. Und Deutschland ist ein großes Land mit unglaublich vielen Kinder- und Jugendchören, da traue ich mir gar kein Urteil zu.

Workshops von Christian Fris-Ronsfeld auf der chor.com

Mariagerfjord Pigekor – moderne Methoden für die Arbeit mit Jugendchören
25. September 2021, 11:30 bis 13:00 Uhr
Medizinische Hochschule Hannover | Gebäude I01 | Hörsaal F

Poparrangement für Jugendchöre – leichtgemacht
25. September 2021, 14:30 bis 16:00 Uhr
Medizinische Hochschule Hannover | Gebäude I01 | Hörsaal F

Interview geführt von Nina Ruckhaber für die Chorzeit – Das Vokalmagazin, Nr. 84, Juli/August 2021