Der US-Toningenieur und Produzent Bill Hare gilt als Pionier zeitgemäßer A-cappella-Aufnahmetechniken. Er hat mit Stars wie Pentatonix, den King’s Singers oder Vocal Line gearbeitet. Ich sprach mit ihm am Rande des Aarhus Vocal Festivals in Dänemark
Bill, Sie sind der A-cappella-Produzent überhaupt. Wie sind Sie zu dieser Musik gekommen? Eigentlich durch einen Zufall. Ich war Instrumentalist und habe viele Jahre Bass in Tonstudios gespielt. Schließlich wurde ich 1984 durch eine Reihe seltsamer Umstände Besitzer eines Tonstudios. Damals gab es kein Home-Recording, kein Pro Tools und nichts dergleichen. Wer etwas aufnehmen wollte, musste ins Tonstudio.
Welche Musik haben Sie damals aufgenommen? Ich hatte mit Oper genauso zu tun wie mit Heavy Metal und allem dazwischen: Bands und Vokalmusik – was auch immer, wer auch immer. Irgendwann habe ich relativ viel Vokaljazz gemacht, und der Leiter einer dieser Vokaljazz-Gruppen empfahl mich und mein Tonstudio einer College-Gruppe, die zeitgenössische A-cappella-Musik gesungen hat – das war 1988.
Lange her! Und wie fanden Sie deren Musik? Diese Gruppe kam zu mir und ich dachte, das ist das Bescheuertste, was ich jemals gehört habe. Lesen Sie mal das Buch, nach dem der Film «Pitch Perfect» entstanden ist (Michael Rapkins: The Quest for Collegiate A-cappella Glory, Anm. der Interviewerin). Das Buch handelt von unserem wirklichen Leben damals. Und im Buch erzähle ich auch von diesen Anfängen, und dass ich die Musik wirklich langweilig fand!
Aber warum? Diese Gruppe hat aktuelle Songs gesungen, so Sachen von The Police und Duran Duran – was man halt gehört hat in den 80ern. Aber sie haben es damals ohne Vocal Percussion gemacht und ich fand es sehr seltsam, diese Musik ohne Backbeat zu hören. Für mich klang es wie Fahrstuhlmusik. Ich mochte es überhaupt nicht!
Und was passierte dann? Ich habe offenbar einen guten Job gemacht habe, jedenfalls sind danach weitere Gruppen zu mir gekommen – und ich dachte nur: «Nein, nicht noch mehr von diesem Kram!» Aber ich habe dann mit vielen dieser Gruppen gearbeitet und dachte mir: «Wenn ich schon an diesem A-cappella-Zeug hängen bleibe, kann ich wenigstens schauen, ob wir das nicht irgendwie cooler hinkriegen können.»
Wie sah das konkret aus? Ich habe den Leuten nahegelegt, Vocal Percussion einzusetzen, obwohl das zum damaligen Zeitpunkt noch niemand so recht gemacht hatte. Ich habe begonnen, die Sänger close- up zu mikrofonieren wie Solisten, anstatt die Gruppe im Ganzen aufzunehmen. Ich habe mit gedoppelten Spuren gearbeitet – all diese Techniken, die ich zu nutzen gelernt hatte, als ich jahrelang Popmusik machte. Und wenn ein Sänger bei einem Solo ein Instrument imitierte, habe ich das gleiche Mikrofon benutzt, das ich für genau dieses Instrument auch eingesetzt hätte – solche Dinge halt.
In den A-cappella-Geschichtsbüchern nennt man Sie einen Pionier und Innovator … … dabei war ich einfach nur gelangweilt. Ich wollte keine Revolution anzetteln, ich hatte keinen Plan. Die Dinge entstanden einfach aus dem Versuch, all das besser zu machen, was ich nicht wirklich gut fand. So war das.
Das waren also die Anfänge. Wie hat sich die A-cappella-Szene in den USA in Ihren Augen seither entwickelt? Naja, ich beobachte das zwar eigentlich seit fast 25 Jahren, aber offen gestanden wusste ich lange Zeit gar nicht, dass es überhaupt eine Szene gibt. Ich habe mich halt immer auf die Gruppen konzentriert, mit denen ich gerade gearbeitet habe. Um den Rest habe ich mich nicht gekümmert. Es gab ja auch kein Internet, ich konnte gar nicht wissen, wer gerade was machte. Aber seit Anfang der 2000er Jahre haben sich wirklich viele Dinge verändert, die Szene wurde sehr schnell viel größer – fast schon schwindelerregend! Und ich habe begonnen, Gruppen aus der ganzen Welt aufzunehmen, zuerst hier in Aarhus mit Basix: Sie waren die erste nichtamerikanische Gruppe, mit der ich je gearbeitet habe! Deshalb fühle ich mich hier beim Aarhus Vocal Festival immer wie zuhause.
Und inzwischen sind Sie wirklich interessiert an der Szene, Sie sprechen auf Veranstaltungen, die sich mit A-cappella-Musik beschäftigen, und Sie reisen zu Festivals. Ja, das sind jetzt halt meine Freunde hier, alle meine berühmten Freunde: Pentatonix und die anderen.
Wie war die Zusammenarbeit mit Pentatonix? Das sind ja Superhelden! Ja, das sind sie! Aber ich sehe sie praktisch nie, für mich sind sie die Stimmen. Ich kenne sie und ich betrachte sie auch als meine Freunde, aber wenn ich in ihre Produktionen einsteige, geht es um den letzten Schliff, um die Politur für ihre Stimmen.
Ist das der normale Weg, dass Sie mit den Gruppen gar nicht in Berührung kommen, sondern nur die Tonspuren bekommen? Ja, mit den meisten Gruppen arbeite ich tatsächlich über das Internet – selbst wenn sie in meiner Nähe wohnen, schicken sie das Material über das Internet, weil das viel einfacher ist. Ich habe zum Beispiel gerade Maybebops neues Album gemischt.
Und Sie haben auch mit den Wise Guys und mit amarcord gearbeitet. Genau – und ich habe sie alle gar nicht persönlich getroffen, sie haben mir einfach ihre Tonspuren geschickt.
Hören Sie einen Unterschied zwischen deutschen und USamerikanischen Gruppen? Tatsächlich arbeite ich inzwischen mehr in Europa als in den USA. Ich arbeite gar nicht mit so vielen US-Gruppen und ich habe den Eindruck, dass Europäer die US-amerikanische Szene für größer halten, als sie tatsächlich ist.
Man denkt tatsächlich, dass es überall in den USA A-cappella-Musik gibt. Und das ist definitiv nicht der Fall. Das ist nur unsere Propaganda. Ich komme hierher, um mir meine A-cappella- Dosis abzuholen.
Aber bei Ihnen gibt es so viele studentische A-cappella-Chöre in den Colleges. Ja, das stimmt schon. Aber die College- Szene ist ein ganz eigenes Ding – das ist alles schön und gut, aber in den meisten Fällen musikalisch nicht sehr befriedigend. Wir haben vermutlich rund 3.000 dieser Gruppen in den USA, aber die meisten davon würdest du nicht hören wollen, und du würdest sie nicht hier auf dem Festival haben wollen. Das ist schon ein anderes Level. Einige wenige von ihnen sind richtig gut, aber die meisten haben nicht das Kaliber der Ensembles, die wir hier hören.
In den USA gibt es seit 2009 die Fernsehsendung «The Sing-Off», bei der in mittlerweile fünf Staffeln A-cappella-Gruppen gegeneinander angetreten sind. Sie gehörten auch zu den musikalischen Mitarbeitern der Show, wie kam das? «The Sing-Off» produziert der Sänger, Arrangeur und Komponist Deke Sharon von der Gruppe The House Jacks. Deke, der Toningenieur und Arrangeur Ed Boyer und ich haben früher viel zusammengearbeitet.
In Europa sind Sie der A-cappella-Mixing-Star! Ja, in Europa bin ich wahrscheinlich etwas bekannter. Das ist irgendwie ziemlich komisch: Ich komme nach Europa und die Leute wissen, wer ich bin – eine seltsame Erfahrung für mich, lustig und sehr überraschend.
Der Kalifornier Bill Hare ist seit über 30 Jahren als Toningenieur und Produzent tätig. Er gilt als Pionier der Übertragung von Pop- und Rock-Produktionstechniken auf A-cappella-Aufnahmen. Viele erfolgreiche Alben von einigen der bekanntesten A-cappella-Gruppen hat Bill Hare aufgenommen und gemischt, darunter die Swingle Singers und die King’s Singers (England), Vocal Line (Dänemark), Pentatonix, Street Corner Symphony und The House Jacks (USA), Cluster und The Ghost Files (Italien) oder die Wise Guys, amarcord und Maybebop. Bill Hare wurde mit zwei Grammy Awards und 50 Contemporary A-cappella Recording Awards (CARA) ausgezeichnet.
Artikel von Nina Ruckhaber für die Chorzeit, Ausgabe 07/08 2015