„He, ich habe mein Ticket doch mit Tisch bestellt“ höre ich neben mir einen Besucher rufen, als ihm eine Musicaldarstellerin den Bistrotisch wegschnappt und Richtung Bühne trägt. Tja – so kann man sich täuschen, denn hier ist man mittendrin. Mittendrin im Pariser Stadtteil Montmartre im Café des Deux Moulins und wird bedient. Doch bin ich nicht eben noch am Münchener Ostbahnhof ausgestiegen?
Ich sitze im halbvollen WERK7 Theater in München. Hier wird gleich das Musical „Die fabelhafte Welt der Amélie“ aufgeführt – basierend auf dem gleichnamigen Kinoerfolg von Jean-Pierre Jeunet & Guillaume Laurant aus dem Jahr 2001, der rund 180 Millionen Dollar und 5 Oscarnominierungen einspielte. Der 1967 erbaute ehemalige Kartoffelspeicher ist wohl eines der ungewöhnlichsten der vierzehn deutschen Theaterhäuser von Stage Entertainment, dem größten Musicalanbieter in Deutschland. Und hier spreche ich nicht nur über die eher raue Außenanlage mitten im Münchener Werksviertel oder die Plastikschalenbestuhlung, sondern auch von der Zuschauerbühne, die die Besucher im Halbkreis komplett umgeben und Saal und Spielfläche nahtlos ineinander übergehen lässt. An diesem Ort feierte das Musical – nach einer eher erfolglosen Broadwayproduktion 2017 – unter Regie von Christoph Drewitz im Februar 2019 seine Deutschlandpremiere.
Die 11 Ensemble-Mitglieder singen und tanzen sich durch das Alltagsleben von Montmartre. Im Mittelpunkt steht die junge französische Kellnerin Amélie, die trotz ihrer Gefangenheit in ihrem ganz eigenen Kosmos lebt und gerne andere Menschen glücklich macht – und sich damit auf eine lange Reise zu ihrer großen Liebe begibt. Ein zeitgenössisches Bildermärchen über das Glück im Leben – umgeben von liebenswürdiger Skurrilität, warmherzigem Witz und beschwingter Harmonie.
Die Hauptrolle der Amélie spielt Sandra Leitner. Die gelernte Musicaldarstellerin überzeugt mit einer strahlenden und warmen Stimmfarbe, die mit ihrer perfekten Schlichtheit für die Rolle der zurückhaltenden Amélie nicht besser hätte besetzt werden können. Wenn man sie in der Hauptrollte sieht, vermisst man Audrey Tautou nicht mehr. Ebenso ihr Gegenüber:Andreas Bongard in der männlichen Hauptrolle des Nino Quincampoix funktioniert hervorragend im gesanglichen und szenischen Zusammenspiel mit Leitner.
Begleitet werden die Sängerinnen und Sänger von einer 5-köpfigen Instrumentalband (Drums, Bass, Reeds, Cello), die – erfreulicherweise ganz unaufgeregt und dynamisch passend – auf einem Balkon oberhalb der Bühne spielt. Dirigiert wird das Stück von Marcos Padotzke, der die Instrumentalisten und Sänger sicher durch die Vorstellung führt. Herrlich – wenn Intonation bei Sängern einfach keine Rolle spielt, da sie stimmt!
Die Musik des Musicals besteht aus zwei Klangwelten: Aus neuen Melodien von Komponist Daniel Messé sowie aus der Musik des bekannten Kinofilms. Hat noch nahezu jeder Yann Tiersens Klaviermusik aus dem Kinofilm im Ohr, kann die für das Musical neu hinzukomponierte Musik nicht überzeugen. Erst nach 15 Minuten nehme ich einen Song wahr, der für mich die Qualitäten eines typischen im Ohr bleibenden Musicalhits aufweist. Und diesen Moment erlebe ich tatsächlich nur ein weiteres Mal mit dem Song „Bleib“ gegen Ende der Aufführung. Die zwei Sets à 18 Songs sind unterhaltsam aufgebaut, hangeln sich jedoch zu dicht an der Handlung des Films entlang. Eine Fokussierung auf einige Hauptstränge im Musical wäre wünschenswert und dem Verlauf der Geschichte zuträglich gewesen. Optisch orientiert sich das Musical deutlich am Film: Grün, rot und braun soweit das Auge reicht.
Nach der über 2-stündigen Aufführung schlendere ich durch die Containerlandschaft im Werksviertel nach Hause. Leider ohne im Kopf hängengebliebene Melodien. Ungewöhnlich, nach einem Musicalbesuch.
Nina Ruckhaber, 12.07.2019
geschrieben im Rahmen des Seminars „Musikjournalismus und Musikkritik“ an der Akademie der Bayerischen Presse, Dozent: Roland Spiegel