Chorakademie BaWü: Künstl. Leitung Inga Brüseke im Interview

You are currently viewing Chorakademie BaWü: Künstl. Leitung Inga Brüseke im Interview

In Baden-Württemberg wurde dieses Jahr erstmals eine Chorakademie gegründet. Ich habe mich mit der frisch ausgewählten künstlerischen Leiterin Inga Brüseke unterhalten.

Nina Ruckhaber: Herzlichen Glückwunsch zur Position als Künstlerische Leitung der Chorakademie Baden-Württemberg. Worauf dürfen wir uns programmatisch in den kommenden Jahren freuen?

Inga Brüseke: Vielen Dank! – Zunächst: Es gibt sehr viele gute Angebote in den Chorverbänden in Baden-Württemberg, die top angenommen werden und die weitergeführt werden sollen! Da gilt es jetzt zu überlegen: Was macht in welchem Turnus in Zukunft unter dem Dach der Chorakademie Sinn? Und wo erreichen wir Zielgruppen noch nicht, wo gibt es blinde Flecken?

Ansonsten wird es auch viel Neues geben: Die Chorakademie wird den Vereinen im Land Hilfestellungen bei den Herausforderungen für Chöre im 21. Jahrhundert zu geben und Innovationen in die Chorlandschaft Baden-Württembergs spielen. Die Themen sind vielfältig – Nachwuchsgewinnung und -bindung, Männerstimmenmangel, Repertoire, Choreographie, Multimedia, Digitalisierung, zeitgemäße Führung, Relevanz, multisensorisches Arbeiten, Inklusion, Integration, Interaktivität, zeitgemäße Konzertkonzeption, generationenübergreifende Arbeit und und und…

2022 werden zum Beispiel neue Kinderchorleitungsausbildungen (KC2 und KC3) starten, die von der Chorjugend im Schwäbischen Chorverband und vom Badischen Chorverband entwickelt wurden, anschlussfähig sind und ab 2022 in ganz Baden-Württemberg ausgerollt werden – ein sehr wichtiges Thema, gerade für die Nachwuchsgewinnung und langfristige Nachwuchsbindung. Für das große Feld der Inklusion stehen wir gerade am Anfang der Konzeption eines großen Fortbildungsbereiches vom Coaching über einzelne Seminare bis hin zu einer mehrphasigen Qualifikation Community Singing.

Ein weiterer Motor für Innovationen werden künstlerische Projekte sein, die sich aktuellen Themen widmen oder auch Kompositionswettbewerbe oder auch die Präsentation von impulsgebenden künstlerischen Projekten.

Wie hat sich Ihr eigener musikalischer Werdegang gestaltet?

Mit 4 Jahren habe ich als absoluter Bewegungsmensch mit Ballett gestartet und tanze seitdem fast mein Leben lang. Ab 5 Jahren ging es dann los mit Klavier und Kinderchor – ich stamme nicht aus einem Musikerhaushalt, aber da habe ich meiner großen Schwester nachgeeifert. Im Sängerkreis Soest habe ich dann mit 15 Jahren die D-Ausbildung gemacht, mit 16 dann in Heek die C-Ausbildung, mit 19 hatte ich meine ersten Chöre.

Nach dem Abi war offen, wie es genau weitergeht, und ich habe zunächst eine Ausbildung zur Bankkauffrau absolviert, die sich als Umweg zum Ziel herausgestellt hat: Ich war lange Zeit links schwerhörig und habe erst bei der Euro-Umstellung festgestellt, wie gravierend diese Einschränkung war, weil ich die Kunden im Schalterraum nicht verstanden habe. Ich habe dann ein Hörgerät bekommen und hatte erst mit 20 Jahren mein erstes bewusstes musikalisches Stereoerlebnis – im Kammerchor, doppelchörig, das war sehr berührend!

Danach war überhaupt erst an ein Musikstudium zu denken. In Detmold habe ich dann Schulmusik mit Doppelfach Musik, Gesang, Klavier, Ensembleleitung, Chorleitung studiert und bin dann über Community Dance in den Bereich Musik & Inklusion an der PH Ludwigsburg gekommen. Dort habe ich ein großes Musikprojekt unabhängig von Behinderung durchgeführt – Prinzip Schöpfung, Haydns Schöpfungs-Oratorium ergänzt um zeitgenössische Improvisationen.

In der Chorleitung war es mir aber noch lange nicht genug und nachdem durch eine Ohr-Operation 2012 meine Hörfähigkeit links wieder hergestellt war, habe ich dann meinen Master Dirigieren mit Schwerpunkt Chorleitung in Trossingen studiert. Leider war das recht spät, dadurch konnte ich mich auf einige spannende Erfahrungen wie das Dirigentenforum leider nicht bewerben, weil ich zu alt war.

Ich habe dann neben der PH Ludwigsburg auch für die LMU München, die KU Eichstätt und die Musikhochschule Lübeck gearbeitet, für letztere u. a. konzeptionell im Thema Musik & Inklusion, genauso wie für die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen und die Blasmusikverbände. Dirigierunterricht habe ich in Trossingen gegeben und für Musikschulkollegen in München, aber auch auf einer Südafrikatournee in Stellenbosch.

2015 habe ich meinen Jungen Kammerchor Lucente in München gegründet und hatte das große Glück, dass bereits zwei Jahre nach der Gründung eine längere Zusammenarbeit mit dem Echo-Preisträger Sven Helbig begann. Mit ihm und einem Komponistenkollegen aus Südafrika war Lucente dann 2019 auf der chor.com und arbeitete in dem Jahr zwei Mal mit dem Helbling Verlag zusammen. Seit 2019 leite ich auch das semiprofessionelle Frauenensemble Fenice und durfte ein Stipendium bei concerto21 absolvieren, um meine Arbeit im Bereich der Konzertinszenierung zu vertiefen und professionalisieren. Im künstlerischen ist das einer meiner Schwerpunkte ebenso wie die Aufführung zeitgenössischer Chormusik – ich liebe es, im Austausch mit Komponisten zu sein und neue tolle Musik kennenzulernen und zum Publikum zu bringen.

David Bowie: Space Oddity | Arr. Inga Brüseke für Kammerchor, Obertongesang, Sopransaxophon

Wenn Sie 5 Jahre in die Zukunft schauen könnten: Wo steht die Chorakademie dann idealerweise – und was ist in den 5 Jahren passiert?

In fünf Jahren möchte ich, dass die Chorakademie für qualitativ hochwertige Bildung im Bereich Chor, Stimme und Vereinsmanagement steht, Anlaufpunkt für Beratung der Chöre im Land ist und neue künstlerische Impulse und Innovation nach Baden-Württemberg bringt. Sie soll sich vom Pilotprojekt zu einem fest etablierten Player entwickelt haben, der landesweit seinen Platz und bundesweit Strahlkraft hat, wenn es um Bildung in der Vokalszene sprich Chormusik geht.

Die Chorakademie soll zum Forum für Chor & Stimme im Land werden, ein Think Tank für die Chormusik hier. Forum daher, weil wir regional in die Breite agieren werden – was übrigens eine besondere Herausforderung im Hinblick auf die Steuerung von Qualität ist. Jeder, der die Chorakademie besucht, kann sich seine Aus- und Fortbildungen zertifizieren lassen – ähnlich einem Transcript of Records. Wenn er oder sie sich damit bewirbt, dann weiß man, dass dieses Zertifikat für Qualität steht.

Und ein Thema, was gerade jetzt sehr deutlich zutage tritt: Wir brauchen in unserer Szene eine starke Vernetzung im Land über die Verbandsgrenzen hinaus, also zum Beispiel auch mit den Hochschulen. Corona hat uns gezeigt, dass wir eine sehr starke gemeinsame Stimme brauchen, um unsere Themen auch gesellschaftlich voran zu bringen. Kaum jemandem außerhalb unserer Blase ist bewusst, wie es gerade in der Chorszene aussieht – und noch ist die Konsequenz dieser Pandemie für die Chorszene in ihren Ausmaßen nicht absehbar. Da muss viel passieren, damit dieses Kulturgut nicht wegbricht beziehungsweise keine massiven Schäden erleidet durch die Krise. Für die Zukunft müssen wir unbedingt unsere Bündnisse stärken, um mit einer Stimme zu sprechen und sichtbar zu sein, um Bewusstsein zu schaffen für das, was wir tun.

Wann geht es konkret los? Ab wann werden die ersten Angebote zu buchen sein?

Im Januar 2022 startet das Auftaktprogramm der Chorakademie bis zu den Sommerferien. Das sind – teilweise bereits laufende – Ausbildungskurse, also im Bereich der Qualifikation (C2/C3, Kinderchorleitungsausbildung). Das komplette Programm der Chorakademie startet dann ab dem Schuljahr 2022-23, also im September 2022.

Worauf freuen Sie sich persönlich besonders?

Ich freue mich vor allem darauf, mit meiner Arbeit in der Breite etwas zu bewirken: Ich habe viele Jahre in Hochschulen Musiklehrer ausgebildet und habe diese Aufgabe immer als sehr wertvoll empfunden und als eine große Verantwortung. Lehrer sind Multiplikatoren, die die nachfolgende Generation stark prägen, ihre Aufgabe ist sehr wichtig und die Ausbildung von Lehrern auch. Diese Wirkung und Verantwortung hat mir gefehlt, seitdem ich nicht mehr in Hochschulen tätig war. Jetzt ist diese fantastische Chance da, eine Akademie von Anfang an zu prägen, ihre Werte zu gestalten und gemeinsam mit tollen Kollegen die Chorszene mit neuen Impulsen zu bereichern, Bewährtes weiterzuführen und weiterzuentwickeln.

Ich freue mich außerdem wahnsinnig, bei der Chorakademie alle Bausteine meines Werdegangs einzubringen – konzeptionelle und künstlerische Arbeit wie auch Lehre, denn alles ist mir sehr wichtig!

Inhaltlich möchte ich gerne künstlerische Impulse setzen, grundsätzlich aber auch gezielt in mir wichtigen Themen: Mir liegt die Konzertinszenierung sehr am Herzen, weil ich dem Publikum zeigen möchte, dass Chormusik nicht „nur“ schön ist, sondern auf der existenziellen Ebene etwas mit unserem Leben und Sein zu tun hat und die Begegnung mit Chormusik als Kunst uns verändern kann. Auch gibt es so viele tolle zeitgenössische Komponisten und gerade auch Komponistinnen, die man hierzulande leider kaum kennt. Auch das Thema des Community Singing – also der Kontext Inklusion – ist mir ein Anliegen und ich habe einiges in dem Bereich gemacht. Das sind Themen, bei denen ich künstlerisch und pädagogisch Akzente setzen möchte. Ich freue mich auch, mich in der Dirigierausbildung einzubringen, das ist ein Feld, dass ich wahnsinnig gerne unterrichte, es fließt so viel zusammen in den Fähigkeiten eines guten Chorleiters.

Ein wichtiger Baustein der Chorakademie wird auch ein Coachingnetzwerk für Chöre in Baden-Württemberg sein. Gerade jetzt, in den Zeiten dieser Pandemie, stehen viele vor einem Scherbenhaufen und wissen nicht, wie sie das Puzzle zusammensetzen sollen. Da wollen und müssen wir ran und unterstützen die Chöre ab spätestens November mit dem Beratungsprojekt „Neustart Chor“.

Zur Chorakademie Baden-Württemberg

Die Chorakademie Baden-Württemberg ist der zentrale Ansprechpartner für Bildungsangebote im Chor und Vereinsbereich in Baden-Württemberg. Sie bündelt die Weiterbildungsangebote des Badischen und Schwäbischen Chorverbandes, sowie des Baden-Württembergischen Sängerbundes und schafft dadurch Synergieeffekte und eine verlässliche Qualität und Erreichbarkeit. Durch die Zusammenarbeit von zwei der größten Chorverbände in Deutschland setzt sie neue Maßstäbe in der musikalischen und vereinsmanagerialen Weiterbildung.

Die Angebote der Chorakademie finden sowohl im Musikzentrum Baden-Württemberg in Plochingen als auch dezentral im gesamten Bundesland statt. Die Bildungsangebote und innovativen Formate richten sich an Chorleiterinnen und Chorleiter, Sängerinnen und Sänger, Chormanagerinnen und Chormanager sowie andere Aktive in Chören und Vereinen. Die Angebote der einzigen landesweiten Chorakademie in Deutschland stehen allen Interessierten unabhängig einer Verbandsmitgliedschaft offen.

www.ingabrueseke.de
www.chorakademie-bw.de
(im Aufbau)