Interview für die Chorzeit „Wir tun gefährlich klingende Dinge“ – Interview mit Sascha Wienhausen

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Immer mehr Menschen, die eigentlich vom klassischen Gesang kommen, wollen Pop, Jazz oder Gospel singen. Pop-Jazz-Chöre boomen nach wie vor. Wo genau liegen Ihrer Erfahrung nach die größten Schwierigkeiten klassisch ausgebildeter GesangspädagogInnen, ChorleiterInnen und SängerInnen, die nicht-klassische Stile singen und vermitteln wollen? Ich glaube, das größte Problem entsteht aus dem Gedanken vieler klassisch ausgebildeter Sänger, dank ihrer Ausbildung auf der gesundheitlich richtigen Seite zu sein – und dass Popmusik demgegenüber nicht stimmgesund ist. Die klassischen stimmbildnerischen Maßnahmen werden als universell richtig angesehen. Wenn man dieses Missverständnis erst mal hinter sich gelassen hat, gilt es, die Popmusik als eine direkte Art des Singens zu verstehen, die eine ganz andere Herangehensweise an die Stimme verlangt.

Was heißt das konkret? Die Stimmbildung erfolgt sehr viel direkter: Im Pop steigt man oft ohne Einsingen in den Song ein und beginnt sehr unmittelbar zu musizieren. Das eröffnet die Möglichkeit und erfordert die Kompetenz, stimmbildnerische Tools in die musikalische Arbeit zu integrieren. Es gibt ein bedeutendes Werk von Lucy Green, «How Popular Musicians Learn» in dem sie beschreibt, dass viele Popmusiker übers Tun und Hören – also rein informell – lernen und eben nicht formell über Notentext und Theorie. Darin liegt eine große Chance für Klassiker, an Musik noch einmal ganz anders heranzugehen. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Wir brauchen sowohl formelle Strategien, um Musik transportieren zu können, aber eben auch informelle Strategien, um den Spaß am Gesang zurück- und aus der rein akademischen Ecke herauszuholen.

Welche Vorurteile beziehungsweise Ängste gibt es seitens traditionell Ausgebildeter hinsichtlich nicht-klassischer «Benutzung» der Stimme – zum Beispiel Rockgesang als Stimmkiller? Und was halten Sie dem entgegen? Die Ängste zur Stimmgesundheit kommen auf vielen Kongressen immer wieder auf. Wenn ich mir jedoch Statistiken der Musikermedizin anschaue, sind im Augenblick die stimmkranken Klassiker immer noch in der Mehrzahl. Jede Form von Hochleistungssport, ob nun Klassik, Pop oder Rock, ist belastend für die Stimme. Natürlich klingt jede Form von Rockgesang irgendwie erst mal belastend. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch, dass man jeden dieser Stimmeffekte bewusst steuern und einsetzen kann – und dann ist man auf der sauberen und gesunden Seite. Es gibt unfassbar viele Rock- und Popsänger, die ihr ganzes Leben lang stimmgesund bis zum Ende ihrer Karriere sehr gefährlich klingende Dinge tun.

Ist es «natürlicher» oder intuitiver, nicht-klassisch zu singen? Oder bedarf Pop-Jazz-Musical einer ebenso gründlichen und langen Ausbildung der Stimme? Wenn man in den Hochleistungsbetrieb mit fünf bis sechs Tagen Gesang pro Woche möchte, sind beide Ausbildungen gleich steinig. Aber tatsächlich ist der erste Zugang über Pop und Musical viel einfacher – allein schon durch die informellen Strategien unserer ästhetischen Erziehung in der Kindheit. Im Pop kommt man zum Beispiel über Circle Songs oder Call-and-Response viel leichter ans Musizieren.

Bestimmte Qualitäten des nicht-klassischen Gesangs stellen enorme Anforderungen  an die Stimme,zum Beispiel das Belting. Ist das eigentlich Handwerkszeug, das man lernen kann? Ich glaube, das hat viel mit gesellschaftlichen Prozessen und unserem sozialen Kontext zu tun, vor allem wie und mit welcher Musik wir aufwachsen. Wenn ich in einem Umfeld aufwachse, in dem das laute Singen und Sprechen eher verpönt ist, dann ist mein Weg ein bisschen weiter, als wenn ich aus Skandinavien komme, wo die Bruststimme bei Frauen aufgrund der längeren Emanzipationsgeschichte extrem etabliert ist. In Italien ist es auch leichter, in den Overdrive oder ins Belting hineinzukommen. Ich glaube, dass die Stimmen von Opern- oder Popsängern vom handwerklichen Können her nicht grundsätzlich unterschiedlich sein müssen. Um auf einer Opernbühne permanent laut und tragfähig zu singen, bedarf es letztlich auch eines Overdrive oder bei Männern einer guten Belting-Qualität.

Sie waren schon mehrfach Dozent beim Leipziger Symposium Kinderstimme. Was müssen besonders PädagogInnen und ChorleiterInnen beachten, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, wenn es um nicht-klassischen Gesang geht? Wo liegen da Schwierigkeiten, wo Chancen? Gerade von Stimmbildnern aus dem Kinder- und Jugendstimmbereich begegnet mir ein großes Interesse an Qualifikation. Die zentrale Schwierigkeit liegt sicherlich darin, dass es in diesem Bereich traditionell einen sehr starken Fokus auf die Kopfstimme gibt. Das Thema Bruststimme ist bei Kinderstimmbildnern erstmal angstbesetzt. Eine Lösung dieses Problems liegt sicher in einer reflektierteren Verwendung der Begriffe Brust und Kopfstimme. Aber da besteht viel Nachholbedarf.

Wie sehen Sie den Stand der Ausbildung im nicht-klassischen Gesang heute in Deutschland? Die Ausbildungssituation in Deutschland in diesem Bereich ist extrem schwierig. Es gibt wenige seriöse Anlaufstellen für Weiterbildungen. Wir haben zum Beispiel in der deutschsprachigen Professorenschaft niemanden, der sich einer Ausbildung in Complete Vocal Technique, kurz CVT, unterzogen hat. Andererseits kommen auch Professoren gerne zu meinen Vorträgen. Ich würde mir wünschen, dass sich der High-Level-Bereich ein bisschen breiter aufstellt.

Sie sind CVT- und Estill-Lehrer. Was leisten diese beiden Methoden für das Verständnis von Stimme und für die Stimmausbildung und Stimmbildung? Worin liegen die Unterschiede der beiden Herangehensweisen? Von der Herangehensweise sind beides dekonstruierende Methoden mit durchaus vielen Überschneidungen. Estill versucht einen Überblick über die menschliche Stimme zu geben und vermittelt eine Art Werkzeugkasten, durch den man die Stimme sehr gut kennen-, jedoch nicht singen lernt. CVT beschränkt sich hingegen aufs reine Singen und lehrt eine Methode, die sängerische Skills vermittelt Die beiden ergänzen sich gut. Ich bin allerdings der einzige Lehrer auf der Welt, der jetzt beide Ausbildungen hat.

Wie sehen Sie den Stand der Forschung auf dem Gebiet nicht-klassischer Gesangstechniken? Sie arbeiten ja hier mit Phoniatern und Musikermedizinern zusammen – begegnen Sie Vorurteilen? Das ist sehr unterschiedlich. Die beiden Stimmforschungshotspots Berlin und Freiburg sind sehr offen und sehen es als ganz große Chance zum Neudenken der bekannten Theorien. Vor kurzem war ich in Freiburg im Zentrum für Musikermedizin und habe dort vorgesungen. Institutsleiter Prof. Bernhard Richter dachte anfangs, dass meine Stimmbänder kaputt seien. Bei der anschließenden Untersuchung zeigten sich aber keine Auffälligkeiten. Gleiches ist mir im Institut in Wien passiert. Beide vermuteten beim Hören etwas Pathologisches und wurden dann eines Besseren belehrt. Dadurch erlebe ich Offenheit.

Im Oktober startet an der Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen ein neuer berufsbegleitender Lehrgang «Popgesang: Contemporary Non Classical Styles». Hier sind Sie einer von drei DozentInnen. Wer ist die Zielgruppe und was sind Teilnahmevoraussetzungen? Sind fundierte Pop-Kenntnisse nötig? Der Lehrgang ist für Leute gedacht, die im Anschluss Gesang unterrichten möchten. Wir Lehrenden wählen als Jury die geeigneten Bewerber aus. Wir möchten mit Leuten arbeiten, die sich stimmlich bereits ein bisschen ausdrücken können und nicht mehr am Anfang stehen, damit man schnell ins direkte Musizieren kommen kann.

Wie muss man sich den Unterricht im Trossinger Lehrgang vorstellen? Es ist ein sehr praktischer Lehrgang mit nur geringem Theorieteil. Neben musikpädagogischen Tools zur natürlichen Vermittlung gibt es musizierpraktische Tools. Es wird fast jeden Tag Gesangsunterricht in Vierergruppen mit gegenseitiger Reflexion geben. Mit Winnie Brückner arbeitet man rund ums Thema Mehrstimmigkeit im Ensemblegesang. Wir beschäftigen uns mit den unterschiedlichsten Stimmeffekten moderner Gesangspädagogiken, Leadsheets werden geschrieben – die Sprache der Popmusik soll erlernt werden. Abends werden immer wieder kleine Konzerte gegeben, erst mit Pianobegleitung, später mit gesamter Band. Jeder Teilnehmer soll viel singen! Natürlich werden wir zu Beginn auch die Wünsche der Teilnehmer aufnehmen und versuchen, diese mit einzuflechten.

Was sollen die AbsolventInnen anschließend können? Mein Ziel ist es, Brücken zu neuen Ansätzen im Popularbereich zu spannen. Die Teilnehmer sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie man stimmtechnisch an unterschiedliche Stile herangeht, welche Rolle die Rhythmik spielt, wie mit Mehrstimmigkeit im Populargesang umgegangen wird – nicht nur in der Theorie, sondern über viel Ausprobieren.

Der diplomierte Sänger und Gesangspädagoge Sascha Wienhausen stand lange auf Musical-, Opern- und Operettenbühnen. Seit 2009 ist er Professor für die Didaktik des Populären Gesanges mit dem Schwerpunkt auf der Pädagogik des Pop- und Musicalgesanges am Institut für Musik der Hochschule Osnabrück. Als einziger Pädagoge weltweit ist er sowohl «Certificated Master Teacher of Estill Voice Training» als auch «Authorised Teacher» der Complete Vocal Technique. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Didaktik des populären Gesanges und Stimmeffekte im Rockgesang.

Popgesang – Contemporary Non Classical Styles
Berufsbegleitender Lehrgang in fünf Phasen
1. Akademiephase: 26. – 28.10.2018
DozentInnen: Winnie Brückner, Anika Neipp, Prof. Sascha Wienhausen, Christina Hollmann (Leitung)
Anmeldeschluss: 10.09.2018
www.bundesakademie-trossingen.de

>> Interview geführt für die Chorzeit – Das Vokalmagazin Mai 2018
Foto: S. Wienhausen