Von der „Szene“ zur Interessengemeinschaft Eine Stadt, ein Netzwerk

You are currently viewing <span>Von der „Szene“ zur Interessengemeinschaft</span> Eine Stadt, ein Netzwerk

In Freiburg haben Chöre eine Interessensgemeinschaft gegründet: Der Verein Chorstadt Freiburg macht Lobbyarbeit, organisiert jährlich ein Mini-Festival und hat große Pläne für das 900. Stadtjubiläum 2020.

In praktisch jeder Stadt gibt es eine Vielzahl an Chören. Und abgesehen von gelegentlichen Gemeinschaftskonzerten mit anderen Chören kümmert sich jeder Chor um seine eigenen Belange: Den täglichen Kampf um öffentliche Gelder, Werbemöglichkeiten, Rechtsberatung, Konzertorte, Proberäume …. Aber wie wäre es, wenn man sich mit anderen Chören innerhalb einer Stadt in einer geeigneten Struktur zusammenschließen würde, um auf lange Sicht zusammenzuarbeiten und voneinander zu profitieren? Ein eher seltenes Modell, für das es aber einen Vorreiter gibt: In Freiburg haben sich 13 Chöre zusammengeschlossen und 2018 den Verein Chorstadt Freiburg gegründet. Mitglieder sind – Genre-übergreifend – fast alle renommierten professionellen, semiprofessionellen und Laienchöre sowohl aus dem Bereich der geistlichen als auch der Jazz- und Popmusik. Laut Satzung können nur nachhaltig und auf anerkannt künstlerischem Niveau tätige Ensembles Mitglied werden. Gründungschöre sind u. a. die Popchöre Twäng! und Voice Event sowie die klassischen Chöre John Sheppard Ensemble, die Camerata Vocale Freiburg, der Freiburger Bachchor und der Balthasar-Neumann-Chor. Langfristig ist neben dem Vereinsvorstand aus dem Kreis der Mitgliedschöre auch ein Kuratorium angedacht: Chor-Enthusiasten aus Gesellschaft, Kultur und Politik, die die Ideale des Chorsingens wertschätzen und darum unterstützen wollen.

Ich habe mich mit Bernhard Schmidt, Hauptinitiator und beisitzendes Vorstandsmitglied der Chorstadt Freiburg, getroffen und mit ihm über die Idee, die Ziele und die Gründung des jungen Vereins gesprochen. Schmidt ist freiberuflicher Sänger und Dirigent und leitet derzeit u. a. das John Sheppard Ensemble Freiburg sowie den Chor Canta Nova Saar.

„Die Initialzündung zur Gründung kam bei den jährlichen vom Kulturamt geleiteten Netzwerktreffen der Freiburger Chöre, die ursprünglich der reinen Terminabsprache galten. Hier kam es zum inhaltlichen Austausch zwischen Vertretern der einzelnen Chöre. So entstanden erste Überlegungen, wie ein Netzwerk aussehen könne. Daraus ist erst einmal die Freiburger Chornacht entstanden, die über die Jahre immer größer wurde und uns Chöre damit quasi zur Schaffung einer Struktur gezwungen hat. Inzwischen ist die Freiburger Chornacht ein Aushängeschild des neuen Netzwerks geworden“, so Bernhard Schmidt.

Die grundsätzlichen Vereinsziele sind die Vertiefung der Zusammenarbeit und der Vernetzung der Chöre durch Erfahrungsaustausch und Veranstaltungen. Darüber hinaus soll über Kooperationen mit Institutionen, städtischen Gesellschaften und Festivals bzw. Veranstaltungen sowie über eigene Veranstaltungen und Konzepte die Wahrnehmung der Arbeit der Chöre insgesamt und in ihrer jeweils individuellen Besonderheit verstärkt werden. In der Zusammenarbeit mit den städtischen bzw. staatlichen Stellen sollen die organisatorischen und künstlerischen Rahmenbedingungen der Chorarbeit in Freiburg optimiert werden; hierzu zählen mittelfristig die Modalitäten der öffentlichen Chorförderung sowie langfristig die Proben- und Konzertraumsituation. In Zusammenarbeit mit geeigneten Kooperationspartnern sollen Veranstaltungen und Festivals für Freiburg gewonnen werden, um so den Ruf Freiburgs als Chorstadt weiter zu festigen und zu stärken.

Die Camerata Vocale gehört seit über 40 Jahren zur Stadt und von Beginn an zum Verein

Mittelfristig strebt der Verein eine Erhöhung der städtischen Projektförderung im übernächsten Haushalt ebenso an wie den Aufbau einer gemeinsamen Infrastruktur (Pultleuchten, Podeste, Notenbibliothek, Probenräume …), Fortbildungen für Chorvorstände und -leiter und Gespräche mit dem Kulturamt über einen Bürokratieabbau im Antragswesen. Langfristig ist der Aufbau eines Freiburger Chorzentrums angedacht.

Was Bernhard Schmidt ein solches Netzwerk bedeutet, wollte ich wissen. Seiner Erfahrung nach finden alle Szenen, die sich vernetzen, mehr Gehör bei politischen Entscheidungsträgern: „Der Politik muss das Wählerstimmenpotenzial von über 30.000 singenden Menschen vor Augen geführt werden.“ Zudem sei die anfallende Arbeit auf viele Schultern verteilt, da nun nicht mehr jeder Chor für seine eigenen Belange streiten muss.

„Das Kulturamt Freiburg hat uns von Anfang an sehr unterstützt und in der Gründungsphase super begleitet“, so Schmidt. Wieso ist gerade jetzt der Wille zur Vernetzung so ausgeprägt? „Aktuell sind die Chorleiter vieler großer Chöre Kollegen aus einer Generation, die bereits zusammen studiert haben, sich persönlich gut kennen und einander schätzen. Da entwickelt sich automatisch ein Wille zur Kooperation.“

Im Rahmen der Haushaltsberatungen der Stadt Freiburg stellte der Verein einen Antrag auf Aufnahme in die institutionelle Förderung. In zahlreichen Gesprächen mit allen Fraktionen hat der Verein sich und seine Anliegen den GemeinderätInnen persönlich vorgestellt. Dabei schlug ihnen großes Interesse, Wohlwollen und Unterstützung für ihre Anliegen entgegen. Sogar DCV-Präsident Christian Wulff hat mitgeholfen und in einem Schreiben an die Stadt um kulturpolitische Unterstützung der Chorszene in Freiburg gebeten. Die Gespräche und Bitten wurden erhört, die Chorstadt Freiburg wird ab 2019 mit 15.000€ jährlich institutionell gefördert. Nun kann ab Sommer eine Geschäftsstelle auf Minijobbasis finanziert werden, zudem ist der Grund-Finanzbedarf der Freiburger Chornacht für Bühnen etc. damit langfristig sichergestellt.

Als konkrete Aufgaben benennt der Verein (neben der Durchführung der Freiburger Chornacht und der Lobbyarbeit für die Mitgliedschöre) z. B. das Erstellen eines Konzertkalenders und die gegenseitige Unterstützung bei der Durchführung von Konzerten (Notenbibliothek, Podeste, Proberäume, Aufführungsorte, Adresslisten Solisten, Orchestermusiker, Werbung für Konzerte etc.). Ebenso soll die Darstellung der Chorarbeit in der Presse verbessert werden und die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen intensiviert werden.

Ziele und Aufgaben kann man sich immer viele stellen, doch was hat der Verein seit seiner Gründung im Sommer 2018 bereits erreicht?
Im Bereich der Medien und Öffentlichkeitsarbeit erschien ein erstes Portrait in der Badischen Zeitung über die Zielsetzung und Visionen des Vereins. Das Logo, die eigene Facebook- sowie Webseite sind veröffentlicht. Die Homepage bietet dem Besucher einen öffentlich einsehbaren Konzertkalender, der von allen Chören betreut wird. Unter dem Titel „Chormusik entdecken“ wurde ein erster gemeinsamer Programmschwerpunkt auf die Musik des englischen Komponisten Ralph Vaughan-Williams gesetzt und in einer Konzertreihe mit insgesamt fünf Programmen und neun Konzerten im Sommer 2019 planerisch umgesetzt.
Die Chorstadt Freiburg hat die Trägerschaft der Freiburger Chornacht übernommen, die am 28. Juni 2019 zum vierten Mal abends auf diversen Plätzen und Höfen der Freiburger Altstadt stattfinden wird; über 1000 SängerInnen in 25 Chören werden die Innenstadt zum Klingen bringen.
Die Vernetzung und Interessenvertretung auch nach außen spielt ebenfalls eine Rolle: So war bereits zur Gründungsversammlung das Präsidium des Chorverbandes Breisgau eingeladen, das die Initiative mit Wohlwollen unterstützt. Mittelfristig möchte die Chorstadt Freiburg Mitglied des Badischen und damit auch des Deutschen Chorverbandes werden.

Und wie steht es um strukturelle Vernetzung der Chorszene in anderen Städten? Einige Beispiele: Für Freiburg ist ein Haus der Chöre noch eine Vision, in Frankfurt am Main steht es bereits: Das dortige Haus der Chöre wurde von der Arbeitsgemeinschaft Frankfurter Chöre (Cäcilienchor, Figuralchor, Kantorei und Singakademie) für Chor- und Orchesterproben ohne Publikumsverkehr gebaut und im Juni 2005 eröffnet und wird seither rege genutzt.
Auch Hannover tritt in den letzten Jahren stark als Chorstadt in Erscheinung. Das dort ansässige Int. Chorzentrum Christuskirche ist als Kinder- und Jugendchorzentrum gedacht, bietet jedoch auch anderen Chören aus Hannover eine Plattform.
Die Chorakademie Dortmund – gegründet 2002 – hat sich inzwischen zur größten Singschule Europas gemausert. Aufgeteilt in einen Kinder- und Jugendbereich sowie den Konzertbereich singen in der Chorakademie inzwischen 1000 SängerInnen in 30 Chören.

Seit 1998 eine Stimme in Freiburg: Der Jugendchor Voice Event, selbstverständlich Mitglied im Chorstadt-Verein.

Und wie geht es mit der Chorstadt Freiburg weiter?
Bei der chor.com ist eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Chornetzwerke angedacht, zu der auch Vertreter der Chorstadt Freiburg eingeladen sind. Zum Freiburger Stadtjubiläum 2020 (900 Jahre Freiburg) findet – initiiert von der Chorstadt Freiburg – eine Chornacht der Kulturen statt, in deren Rahmen das Opus magnum des englischen Komponisten John Taverner zur Aufführung kommen soll: The Veil of the Temple soll von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang erklingen. Fünf Chöre, Solisten sowie ein Instrumentalensemble schließen sich hierfür zusammen. Freiburg reiht sich damit in die überschaubare Reihe der Chorstädte ein, die dieses gewaltige Projekt bisher gestemmt haben: London, New York, Berlin und Trondheim. Zudem sollen im Rahmenprogramm des Stadtjubiläums weitere Freiburger interkulturelle Chöre für fast 20 Stunden ununterbrochenen Chorgesang in Freiburg sorgen.

„Freiburg ist eine Chorstadt“ – so formulierte es Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach in seiner Ansprache anlässlich der Eröffnung des 10. Deutschen Chorwettbewerbs 2018 im Konzerthaus Freiburg. „Die Chorstadt Freiburg möchte diesen Anspruch nun mit Leben füllen und die Rahmenbedingungen für alle singenden (und hörenden) Menschen in Freiburg verbessern“, so Corinna Weingärtner, 1. Vorsitzende der Chorstadt Freiburg.

Alles in allem kann der institutionelle Rahmen eines lokalen Netzwerkes durch
– die Bündelung der Aktivitäten,
– die Verteilung der Lasten und Aufgaben und
– die Konzertierung der Interessen und Bestrebungen
der Chorszene einer Stadt einen Aufschwung verleihen, den ein einzelnes Ensemble kaum bewirken wird. Eigentlich keine besonders überraschende Erkenntnis, gerade in der Chorwelt:
Gemeinsam sind wir stark!

Mehr Info zu den Aktivitäten von Chorstadt Freiburg e.V. und seinen Mitgliedschören: www.chorstadt-freiburg.de

Artikel geschrieben von Nina Ruckhaber für die Chorzeit – Das Vokalmagazin, Ausgabe Juni 2019