Interview für den Schwäbischen Chorverband „Chöre sind wichtig für den Zusammenhalt“ Interview mit Christian Wulff

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Im Auftrag des Schwäbischen Chorverbands durfte ich im August 2018 ein Interview mit Bundespräsident a.D. Christian Wulff für die Zeitschrift SINGEN führen. Wir sprachen über seine ersten Monate als Präsident des Deutschen Chorverbandes und darüber, wie er die Rolle der Vereine im Deutschen Chorverband, aber auch in der Gesellschaft sieht.

Sie sind seit 6 Monaten Präsident des Deutschen Chorverbandes. Welches sind die aktuellen Themen, mit denen Sie sich im Verband beschäftigen?
Übernommen habe ich das Amt des DCV-Präsidenten, um die Lobbyarbeit für das Dt. Chorwesen zu verbessern, das Ansehen von Chormusik und Chören zu erhöhen und das Bewusstsein zu verbreiten, wie wertvoll Chöre für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind. In den von Ihnen genannten ersten Monaten hab ich den Eindruck gewonnen, dass wir den Mitgliedsverbänden des Dt. Chorverbandes den Wert und die Bedeutung der eigenen Mitgliedschaft vor Augen führen müssen, dass wir den Verband insofern ein Stück weit reformieren und basisnäher organisieren müssen, dass wir also mehr Hilfe vor Ort anbieten müssen, als von der Zentrale her zu denken. Ich hoffe, dass wir der Mitgliederversammlung im November dazu Ergebnisse vorlegen können und uns dann ganz den eigentlichen Aufgaben widmen können: Wieder mehr Mitglieder in die Chöre zu bekommen und größere Resonanz und öffentliche Anerkennung für Chöre zu bewirken.

Es gab einige Umbrüche. Was nehmen Sie Positives aus den ersten 6 Monaten mit?
Total begeisternd und eindrucksvoll ist das enorme ehrenamtliche, professionelle Engagement von Chorleitern, von Veranstaltern, von Chortagen: Bei chor@berlin z. B. „Pop-Up“ und andere Chöre erlebt zu haben, mit einem ganz jungen, ganz kreativen Publikum, wo Begeisterung und die Lebensfreude am Gemeinsamen spür- und erlebbar war – das hat mich total begeistert. Ebenso z. B. bei Händels „Jephta“ bei den Chortagen Hannover in den Herrenhäuser Gärten; auch da habe ich mich gerne mitreißen lassen.

Gesamtgesellschaftlich betrachtet gibt es in Deutschland derzeit relativ viele strukturelle Herausforderungen. Sehen Sie da ein Potenzial des Chorgesangs?
Ich bin überzeugt, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger spüren, wie sich der Wandel beschleunigt, wie sich Dinge um einen herum verändern: durch die Digitalisierung der Kommunikation, durch die Globalisierung – das überfordert manche, es fordert alle. Es wird ja in einigen Ländern der Welt schon diskutiert, Ministerien gegen Einsamkeit, gegen Vereinzelung einzurichten. Die beste Antwort auf diesen beschleunigten Wandel ist die Förderung von Geselligkeit, Zusammengehörigkeit und Miteinander. Es gibt das schöne Zitat „Musik braucht keinen Dolmetscher“; gemeinsam in einem Chor zu singen verbindet an sich schon, integriert Menschen, schafft Möglichkeiten der Teilhabe, der Anerkennung, der Aufmunterung, fördert aber auch Integration, Austausch, musisch-kulturelle Bildung und steigert sogar den Intelligenzquotienten. Es ist so viel Positives mit Chören verbunden, dass mir Chöre eine der klügsten Antworten auf die Herausforderungen dieses 21. Jahrhunderts zu sein scheinen.

Wo sehen Sie die Rolle des Dt. Chorverbandes bzw. der Vereine in der Demokratie?
Deutschland ist auch deshalb im internationalen Vergleich so erfolgreich, weil wir ein Land der Kleinstaaterei und der Vereinsmeierei sind. Es gehört bei uns zum guten Ton, in mehreren Vereinen Mitglied zu sein, sich selbst zu engagieren, sich vor Ort zu kümmern; nicht auf Lösungen von oben zu warten, sondern unten, im Dorf, in der Gemeinschaft anzupacken und Menschen, die abseits stehen, einzubinden. Deshalb muss der Dt. Chorverband das Sprachrohr dieser vielen ganz unterschiedlichen Chöre in Deutschland sein und ihnen Dienstleistungen anbieten zu Themen wie GEMA, WhatsApp- und Facebookvereinbarungen bis hin zur Gestaltung der Homepage. Der DCV muss die Arbeit von Chorleitern und Chören fördern, begünstigen, erleichtern, muss den Informationsaustausch sicherstellen, ein Netzwerk sein – aber eben auch ein starkes Sprachrohr sein. Ich bin ein bisschen entsetzt, wie wenig Geld für das Laienmusikwesen in Deutschland von Bund, Ländern und Kommunen gezahlt wird; natürlich müssen wir den öffentlichen Beitrag steigern. Offenkundig ist es leichter, Gelder loszueisen, wenn das Kind im Brunnen liegt, als zu verhindern, dass es überhaupt erst reinfällt. Und diese präventive Qualität von Kultur würde ich als DCV-Präsident gerne in die Debatte mit politischen Vertretern einbringen.

Wo sehen Sie die Zukunft der Vereine in Deutschland?
Vereine haben etwas sehr Verantwortliches, Stabilisierendes, Dauerhaftes, sie sind Traditionspflege, Herkunft und Entwicklungspotential. Es wäre zu wünschen, dass viele spontane, freie Initiativen wie z. B. Pop- und Jazzchöre auch in Vereinsstrukturen geführt werden, um dauerhaft organisiert zu sein, um nicht von einem Chorleiter oder Spontanität abhängig zu sein. Vereine schaffen Stabilität [Kontinuität?] und können aus einem breiten Fundus schöpfen. Im dt. Sängerwesen spüre ich natürlich die Tradition, die dort oftmals sehr eindrucksvoll atmet. Sich aus dieser Tradition heraus modern aufzustellen, in der modernen digitalen Gesellschaft präsent und vor Ort zu sein, ist eine echte Herausforderung.

Glauben Sie, dass die Vereinsstrukturen bei der Umsetzung der Demokratie helfen?
Das ist ja das große Thema, dass Demokratie vom griechischen Wort demos kommt: Das Volk, die Volksherrschaft. Und Demokratie funktioniert überhaupt nur, wenn das Volk herrscht, herrschen will, sich zur Wahl stellt, selbst wählt, etwas tut, sich engagiert – nicht nur darauf hofft, dass es andere tun. Deswegen gehören Demokratie und bürgerschaftliches Engagement sachnotwendig direkt zusammen. Ein Verband wie der DCV, der Millionen Sängerinnen und Sänger vertritt, ist wichtiger Teil der Demokratie: Die Macht geht vom Volk, von der Basis aus; das Volk kann sich selber einbringen, mitwirken und Einfluss nehmen. Das ist ein konstitutives Element von Demokratie.

Man kann den Umgang im Verein als Spiegelbild der Gesellschaft bezeichnen. Glauben Sie, dass in Vereinen Menschen einen demokratischen und guten Umgang miteinander lernen können?
Wenn ich höre, wie in Chören manchmal diskutiert wird, ob alle ein Halstuch bei der Aufführung tragen und ob sie es dann um den Hals oder um den Bauch tragen und in welcher Farbe es denn sein soll und ob alle die gleiche Farbe tragen, dann erlernt man dort Mehrheit und Minderheit in Abstimmungsverfahren, also Demokratie. Das ist ein Ort gelebter Demokratie, wobei das unterschiedliche Dimensionen hat, weil manchmal auch der Chorleiter ganz wesentlich entscheidet. Aber am Ende muss der auch seinen Chor mitnehmen.

Wie stehen Sie zur Professionalisierung im Ehrenamt?
Wir als DCV finden die Initiative der Dt. Chorjugend gut, Chormanager auszubilden, Seminare für bessere und effizientere Organisation und Vermarktung von Chören anzubieten: Hier kann man Chöre professionalisieren, um Ehrenamtliche zu entlasten. Denn die Bereitschaft, dauerhaft einen Großteil seiner Zeit einzubringen, sinkt, während die Anforderungen im beruflichen, familiären Bereich steigen – da ist es immer gut, niemanden zu überfordern, sondern ihr oder ihm Hilfen an die Hand zu geben.

Wie gewinnt man Nachwuchs für das Ehrenamt im Vereinsbereich?
Ich glaube, wer dabei ist, merkt schnell, welche Freude ihm das vermittelt und welche neuen Bezüge und Beziehungen, Kontakte, ja welche Freude es auch auslöst. Aber junge Leute überhaupt erst zu dieser Erfahrung zu bringen, ist schwieriger geworden, weil man mit anderen konkurriert, die auch um junge Leute buhlen. Insofern ist für mich das Wichtigste, dass man Kindern im Kindergarten und in der Grundschule das Singen viel näher bringt, dass noch viel mehr gesungen wird und dort neue Kinderchöre gegründet werden. Denn wer früh ans Singen herangeführt wird, singt sein ganzes Leben lang; wer daran nicht herangeführt wurde, wird eventuell niemals das Glücksgefühl einer Zugehörigkeit zu einem Chor erleben.

Was tut der DCV für seine Vereine? Warum ist es für einen Verein wichtig, beim DCV Mitglied zu sein?
Einmal liefern wir natürlich sehr viel Unterstützung, Information, Vernetzung, um Vereine gut zu führen und Chöre gut zu leiten. Aber das Bessere ist Feind des Guten. Wir glauben, dass wir zwar gut sind, aber noch besser werden können und haben eine Reihe von Gremien eingerichtet, die jetzt tagen und bereits im November der Mitgliederversammlung Ergebnisse vorlegen sollen: wie wir unsere Zeitung besser machen, wie wir unsere Angebote transparenter machen, wie wir den Nutzen des DCV deutlicher machen und wie wir mehr öffentliche Mittel für Mitgliedsverbände in den Bundesländern gemeinsam durchsetzen, damit dieser Bereich die Unterstützung erfährt, die er aus meiner festen Überzeugung heraus verdient hat.

Mitglied im Chor zu sein bedeutet, in einer Gemeinschaft zu sein. Warum ist diese Gemeinschaft unentbehrlich?
Es gibt ein Buch eines Kolumnisten der New York Times über den beschleunigten Wandel. Er kommt am Ende zum Ergebnis, dass jeder – auch in der modernen, digitalen Gesellschaft – einen Mentor, einen Hinweisgeber braucht. Jemand, der ihm die Hand auflegt, der ihm Mut macht, der ihm Hinweise gibt und an Wegmarkierungen Hilfestellung leistet. Das alles geschieht im Chor. Dort treffen Menschen zusammen und verbinden sich miteinander, über das Singen hinaus, in ihrer Freizeit. Und diese menschlichen Bindungen von Mentoren zu Mentees, von Älteren zu Jüngeren, von Berufstätigen zu Berufssuchenden stellen Verbindungen her, die ein Leben lang tragen. „Alleine klingt es bei weitem nicht so toll wie zusammen“ und „Je besser wir zusammenwirken, desto besser klingt es zusammen“; das sind Gefühle, die man nicht nur in der Musik brauchen kann, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens.

Was wünschen Sie sich als Präsident von den Vereinen im Chorverband?
Gemeinsinn: Dass wir die Begeisterung, die wir fürs Singen und für die Chöre haben, nach außen tragen und uns darauf konzentrieren, unsere Wirkung zu erhöhen, statt uns intern mit Debatten aufzureiben und einander die Zeit zu stehlen, dir wir besser nutzen können, um für die Chorszene aktiv Werbung zu machen.

Wie kann sich ein Verein bei der Gestaltung des Verbandes einbringen?
Zu meiner Verwunderung finden jetzt, teilweise erstmals, Einbindungen einzelner Vereine und Mitgliedsverbände in die konkrete Gremienarbeit intensiv statt; jeder, der eine Idee oder eine Kritik hat, kann sie loswerden und wird eine Antwort bekommen. Die Stimme des Schwäbischen Chorverbands wird ja ganz kontinuierlich durch Herrn Dr. Jörg Schmidt erhoben: Er achtet darauf, dass wir nichts machen, was nicht auch Schwaben nutzt.
Aber das Feld, sich einzubringen, ist unerschöpflich. Natürlich ist die Haupteinbringung bei unseren großen Veranstaltungen chor.com und Chorfest erwünscht – zum gegenseitigen Nutzen und zur Außenwirkung – aber auch zwischen diesen Großveranstaltungen sind unsere Ohren weit offen. Wir sitzen da nicht in Berlin in der Zentrale und walten unserer Amtsgeschäfte, sondern wir sind vor Ort unterwegs. Ich war jetzt beim Hamburgischen Chorverband, beim Niedersächsischen Chorverband, beim Fränkischen Sängerbund und höre vor Ort, wo der Schuh drückt und wo der DCV helfen kann. Ganz besonders freue ich mich auf das Chorfest Heilbronn, weil ich die Verbindung von Chormusik und Bundesgartenschauen toll finde. Man findet dort große Resonanz seitens der Besucher, und in der Natur ist immer eine sehr aufgeräumte Stimmung. Da ich viele Bundesgartenschauen erlebt und sogar eine in Koblenz als Bundespräsident eröffnet habe, freue ich mich auf den Schwäbischen Verband in Heilbronn, der sich darauf seit Langem schon gut vorbereitet.

Wo geht es mit dem DCV hin? Welche Herausforderungen stehen an?
Für mich wäre es schön, wenn wir mit dem Dt. Chorzentrum, mit den großen Ereignissen und den vielen kleinen Gesprächen, Terminen, Veranstaltungen, die wir machen, mehr Menschen darauf stoßen könnten, in einen Chor einzutreten, im Chor mitzusingen und damit auch ihr Leben zu verlängern: Es ist ja der Nachweis geführt, dass eine langjährige Mitgliedschaft in einem Chor das Leben verlängert – weil gemeinsames Singen offenkundig Lebensfreude vermittelt.